Betrachten wir noch einmal das Modell, nach dem wir schon seit zweitausend Jahren denken und sehen. Es ist das Subjekt/Objekt-Denken, also ein Denken und Sehen, das rein und ausschließlich von unserem Ich ausgeht. Cartesius hat es auf das Cogito, auf den einzelnen Menschen reduziert und ein für allemal für verbindlich erklärt. Heute sitzt das Subjekt im Auto und beherrscht die Welt, zumindest die Oberfläche. Wir sehen nur noch das, was unsere Scheinwerfer beleuchten; wir sind, was wir fahren, und wer mir nicht glaubt, der spitze bitte seine Ohr! »Ich stehe vor der Oper«: Dieses Sätzlein wird in knapp fünf Minuten, am Ende meines Vortrags, mehrfach fallen. Die Personen, die es äußern, werden allerdings im Innern des Hauses stehen, nicht davor. »Ich stehe vor der Oper«, das besagt nichts anderes als: Mein wahres Ich ist mein Auto.
Thomas Hürlimann, aus:
»Das Holztheater« (Geschichten und Gedanken am Rand)
© Ammann Verlag 1997
••• Letzte Woche habe ich Pynchon gelesen. Ich habe es jedenfalls – mit mehreren Titeln – versucht. Dieser, wie viele meinen, bedeutendste amerikanische Gegenwartsschriftsteller bekommt mir allerdings gar nicht. Weg damit also. Und ich griff aus Mangel an Lesestoff für die U-Bahn wieder einmal ins Regal mit den schönen Ammann-Bänden aus der Meridiane-Reihe. Diese Bücher habe ich aus ästetischen Gründen gesammelt, aber bei weitem noch nicht alle gelesen. Dieses Mal griff ich Hürlimann heraus.
Seine »Geschichten und Gedanken am Rand« erinnerten mich ein wenig an Hedigers »Krötenkarneval«. Auch in Hürlimanns kolumnenartig kurzen Prosabeiträgen versucht ein Schweizer, sich über sich selbst, sein Land, seine Identität und die Auswirkungen unseres Denkens auf die Wirklichkeit (sowie vice versa) zu machen.
Nicht alle diese Reflexionen finde ich geradeheraus überzeugend. Am besten ist Hürlimann auch in diesem Buch, wenn er erzählt. Und es hat einige sehr gelungene Erzählstücke in diesem Band.
An den gerade einmal 96 Seiten lese ich nun schon drei Tage mit bleibendem Vergnügen. Das wäre, denke ich immer wieder, eine schöne (und leicht zu transportierende) Reiselektüre für Markus, wenn er in Kürze wieder gen Brasilien aufbricht. Vielleicht liest er es. Wenn ja, werden wir es bestimmt bald hier lesen – in seiner Gastkolumne, die er uns bald im Turmsegler präsentieren wird.
Übrigens: In diesem Hürlimann-Band ist das Problem der Anmerkungen sehr schön gelöst: kein Glossar, keine Fußnoten, sondern klein und kursiv gesetzte Randnotizen. Habe ich hier zum ersten Mal so gesehen. Schön.
Am 23. Juli 2009 um 15:19 Uhr
Ich musste mir das „Holztheater“ bestellen, das meine Buchhandlung leider nicht an Lager hatte. Dafür fand ich ein anderes von Hürlimann, ebenfalls aus der Meridiane-Reihe, das – Deinen Beschreibungen zufolge – ähnlich in Aufbau und Stil ist wie das von Dir besprochene Büchlein. Das Wenige, das ich in den paar Minuten, während derer ich mich in der Buchhandlung aufhielt, sagte mir sehr zu und da frage ich mich – Weshalb denn nicht?
Für den „Krötenkarneval“ diente mir ein brasilianischer Autor als Inspiration, jetzt könnte es für die „Krötenwanderungen“ doch ein Schweizer sein. (Besonders angetan haben mir auf den ersten Blick die Randnotizen, in denen Hürlimann ein Stichwort aus dem Haupttext aufnimmt und um dieses herum ein Geschichtlein erzählt. Wunderbar!
(Läuft das auch unter Plagiat, wenn man nicht Inhalte kopiert, sondern Formen?)
Am 23. Juli 2009 um 16:06 Uhr
Wenn das unter Plagiat fiele, wären wir alle Plagiatoren. Hallo?
Am 23. Juli 2009 um 16:36 Uhr
(wir sind es alle ohnehin. hallo?)
Am 23. Juli 2009 um 16:50 Uhr
Ja, aber hör mal. Sowas dürfen wir doch höchstens in Weinlaune untereinander zugeben, nicht öffentlich. Also wirklich!
Am 23. Juli 2009 um 18:47 Uhr
als ob das nich jeder wüsste. ;)
Am 26. Juli 2009 um 09:04 Uhr
Ich habe inzwischen ein bisschen in dem Buch gelesen und bin doch etwas enttäuscht. Hürlimann sucht sich nicht, er zementiert sich.
Am 26. Juli 2009 um 09:39 Uhr
Da gebe ich Dir Recht. Und genau aus diesem Grund habe ich Dir das Buch empfohlen. Sei Dir Deiner besonderen Qualität bewusst, wenn Du an die Fortsetzungen Deiner Kolumnen gehst. Gerade die Unsicherheit, das Suchen – das macht den besonderen Reiz Deiner Reflexionen aus, und ich möchte das unbedingt bewahrt sehen in den »Krötenwanderungen«.