Ich hatte einen Freund, der aß Frösche

2. April 2009

Peter Høeg
Peter Høeg

••• Die Stimmung ist gehoben, und die Entwicklungsarbeiten für den Kunden gingen mir heute endlich wieder leicht von der Hand. Mit der Wiederaufnahme der Recherchen, dem Lesen, Notieren, Sortieren, ist es eine andere Sache. Ein Buch liegt schon seit einem Jahr auf dem riesigen Bücherstapel neben dem Monitor, eine bei Wallstein (da war meine Agentin früher Lektorin) erschienene Sammlung von Essays zum Thema »Trauma, Literatur und Empathie« mit dem Titel »Das hört nicht auf«. Das gehört noch zum Recherche-Material für die »Leinwand«, aber auch jetzt, während ich »Pans Wiederkehr« vorbereite, werde ich es nochmals durchstöbern. Ein Beitrag darin beschäftigt sich mit Peter Høegs Roman »Der Plan von der Abschaffung des Dunkels«, die Verarbeitung von Heimkinderinnerungen aus den 1970er Jahren in Dänemark. Es geht um Vernachlässigung, Angst, Gewalt und die unerbittliche fremdbestimmte Einteilung von Lebenszeit. Ich habe das Buch damals sofort bestellt, aber es lag bis gestern ungelesen im Bücherturm. Jetzt habe ich es aufgeschlagen.

Es ist meine erste Begegnung mit dem Autor Høeg. Vor genau zehn Jahren habe ich – zusammen mit einem großen 16:9-Fernseher und meinem ersten DVD-Player – eine DVD gekauft: Bille Augusts Verfilmung von Høegs meistbeachteten Roman »Fräulein Smillas Gespür für Schnee«. Ich erinnere mich nicht mehr an die Geschichte, nur noch vage und ohne Zusammenhang an einzelne Bilder der endlosen Schneelandschaften. Das Buch zu lesen, reizte mich damals nicht.

Die Begegnung nun mit Høegs Prosa hat etwas Verstörendes. Sein Stil kommt mir ungeschliffen vor, mitunter handwerklich geradezu nachlässig. Sehr oft setzt er an, wirft eine Andeutung in den Raum und lässt den Faden – und damit den Leser – gleich wieder fallen. Das mag Methode sein, weil dem Erzähler das Aussprechen vieler Erinnerungen schwerfällt. Es hat dabei aber immer wieder Momente großer Poesie, sehr authentisch, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Eine lohnende Lektüre, besonders wenn man der Frage nachspürt, wie das funktioniert mit der Empathie in der Literatur.

 

Nach dem Abendessen, von 19.00 bis 20.15 Uhr, war für die Internatsschüler obligatorisches Schulaufgabenmachen im großen Saal, unter der Aufsicht von Flakkedam. In dieser Zeit war es verboten, den Raum zu verlassen. Das war schwierig für August. Auch am Tag hatte er Mühe stillzusitzen; noch schlimmer wurde es aber abends, wenn man sich dem Zeitpunkt näherte, wo er seine Medizin nehmen sollte.

Ich merkte, daß es sehr schlimm war, und ging in den Aufsichtsraum zu Flakkedam und bat um die Erlaubnis, mit August einen Augenblick hinauszugehen. Um zusammen die Beugung der unregelmäßigen deutschen Verben zu üben, ohne daß es die anderen störte. Ich erklärte, daß er ja eine Klasse vorversetzt worden war und deshalb noch kein Deutsch gehabt hatte. Ich bekam die Erlaubnis.

Es war dunkel. Man spürte, daß es ihm draußen besser ging, aber nicht viel. Auch hier suchte er die Wände, er wollte nicht auf den Wegen gehen oder über die Rasenflächen, sondern hielt sich am Rande des Gebüschs.

Wir gingen ein Stück nebeneinander, er sah zu mir auf.

»Wie ist es im Kinderheim?« sagte er.

»Prima«, sagte ich.

»Wie überlebt man?«

»Das geht ganz von selbst«, sagte ich, »kein Problem, und können wir jetzt zurückgehen, es ist Zeit.«

»Noch nicht«, sagte er. »Du mußt zuerst antworten; ich will nicht rein.«

Wir gingen weiter. Er ging langsam, er hörte zu, es war das erste Mal, seit wir uns kennengelernt hatten.

»Man braucht eine Strategie«, sagte ich.

Er zitterte, er war ohne Jacke hinausgegangen. Ich zog meinen Pullover aus und zog ihn ihm über den Kopf, wie man Kindern Sachen anzieht. Wenn er sich erkältete, würden sie fragen, warum ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Er wehrte sich nicht. Er bekam die Hände nicht in die Ärmel, sie hingen einfach herunter.

»Ich hatte einen Freund, der aß Frösche«, sagte ich. »Er war auch gefährlich, aber das war nicht das Wichtigste. Wenn man allein ist, ist es gleichgültig, wie gefährlich man ist. Das wichtigste waren die Frösche. Die Erwachsenen wußten es auch. Es ist schwer, einen Mann anzurühren, den man einen Frosch hat essen sehen. Das war seine Strategie.«

Ich rechnete nicht damit, daß er verstand.

»Wenn man sich an nichts erinnern könnte«, sagte er, »wenn im Hirn ganz einfach das Licht ausgemacht wäre, das wäre eine ziemlich gute Strategie, oder nicht?«

Also hatte er doch verstanden.

Peter Høeg, aus:
»Der Plan von der Abschaffung des Dunkels«, Roman
Aus dem Dänischen übertragen von Angelika Gundlach
© Carl Hanser Verlag 1995

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>