••• Endlich bringt jemand auf den Punkt, was mir seit Monaten im Kopf umhergeistert: Wie lange wird es noch Romane geben?
if:book ist ein Blog-Projekt des »Institute for the Future of the Book«. Sebastian Mary schreibt dort vor einigen Tagen über eBooks. Dabei geht es ihm nicht um die Frage, ob eBooks nun gut seien oder nicht. Es gibt sie, und sie werden ein regulärer Bestandteil der Literaturlandschaft werden. Aber Mary zieht einen Vergleich zwischen Literatur und Musikindustrie und illustriert seinen Gedanken am Beispiel des iPod: Die Frage sei nicht, ob und wie komfortabel man auf eBook-Readern längere Prosa lesen kann; die Frage sei vielmehr, ob die längere Prosa noch eine Zukunft hat.
It makes economic sense to sell LPs or CDs at a runtime of 60-odd minutes. It makes economic sense to sell books of around 80,000 words. But music for iPods can be sold song by song. So, extrapolating from this to an iPod for reading, what is the written equivalent of a single song? In a word (or 300), belles lettres.
Die Beobachtung korrespondiert mit meinen eigenen Erfahrungen. Bereits ein Blog-Beitrag in der Länge des Artikels von Sebastian Mary bringt manchen Blog-Leser an die Grenze seiner – nicht Aufnahmefähigkeit, wohl aber – Aufnahmebereitschaft. Ich telegrafiere hier nur eine Gedankenkette: Das Überangebot führt zu immer weniger Bereitschaft, noch lange bei einem Gegenstand zu verharren. Ich selbst bin da keine Ausnahme. Ja, ich lese nach wie vor Romane, aber ich bevorzuge das 200-Seiten-Format (zu dem ich selbst ja immer wieder nicht fähig bin, schaue ich auf die eigenen Romane). Bücher von 1000 Seiter oder gar mehr empfinde ich als Zumutung, einen Marathon wie Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« schlechterdings als obszön. Die Generation iPod ist jedoch schon erheblich weiter. Wie man einzelne Songs statt ganzer Alben kauft, liest man einzelne Blog-Posts hier und dort, liest hinein, springt weiter, lässt sich von dem gigantischen Textstrom da draußen treiben und twittert sich eins (bei natürlich begrenzter Zeichenzahl)…
D. G. Myers greift die Frage nach der Zukunft des Buches ebenfalls auf und prophezeit dem Buch eine Zukunft, da Romane nach dem Buch als Medium verlangten. Im Folgebeitrag »A book’s material condition« wird diese Position nochmals bestärkt. Doch dann kommt Sebastian Mary und spricht von der Generation iPod; und schon muss man den Gedanken zulassen, dass wohl der Roman das Buch verlangt, es aber unsicher ist, ob künftige Leser noch nach dem Roman verlangen werden.
Am 31. März 2009 um 14:04 Uhr
Im Netz lese ich ungern Texte, die allzu lang sind. Seltsamerweise färbt das nicht ab. Mag dicke Bücher gerne.
Was die große Zahl der Leser betrifft, würde ich auch sagen: kurz wird mehr und dicker wird selten.
Am 1. April 2009 um 14:57 Uhr
Die „disruptive“ Wirkung digitaler Technologie, insbesondere von Datenreduktion und Komprimierung hat Musikinhalte ja nicht nur von ihren physischen Trägersystemen entkoppelt und befreit, sie hat auch einen zentralen Schwindel der Branche entlarvt: Als monopolistische Aggregatoren und Herrscher über die Macht, per Marketing Stars zu schaffen oder sie – nach Liebesentzug – wieder verschwinden zu lassen, haben die A&R-Manager Dekaden lang Schallplatten oder CDs nach dem Prinzip zusammengestellt: 1 Hit, 1-2 gute Songs plus 7 Songs Durchschnittsware. Die legal wie illegal genutzte Chance zur Entbündelung dieses Zwangspakets hat der Generation iPod die alte A&R-Macht übertragen und gleichzeitig die Qualitätsanforderung an den Einzel-Take erhöht: in den Playlists der Favoriten findet sich kein Durchschnitts-Song mehr. Auf die Literatur übertragen könnte man daraus nicht nur die Idee ableiten, dass das einzelne Werk kürzer, sondern dass auch der (natürlich subjektive) Qualitätsanspruch bzw. die Aufmerksamkeitsfesselungsschwelle höher liegen wird und leseanreizende Stimuli höherfrequent dosiert werden müssen…
Am 7. April 2009 um 20:47 Uhr
Lieber Uli, was sind leseanreizende Stimuli? Und wie geht eine Forderung danach sowie nach einem höheren Qualitätsanspruch damit zusammen?
Der Kommentar macht mir deutlich, dass man die Analogie zwischen Tunes und Literatur nicht zu weit treiben sollte. Bei einem längeren erzählenden Text stehen für mich noch immer die Gesamtdramaturgie, Spannungsbögen und Gestaltungswechsel als Qualitätsmerkmale im Raum. Chapter picking würde solche Kompositionen zerstören und damit das Genre an sich.
Am 10. April 2009 um 07:12 Uhr
Ein Roman, der mich fesseln soll, der Vergnügen, Lust verschafft, Phantasie beflügelt, mich dem Alltag enthebt, braucht Umgebung. Physikalisches Gewicht. Braucht Leder oder Leinen, birgt das Bedauern über die fortgeschrittene Zeit, die Müdigkeit geschaffen und doch nicht zum Ende der Geschichte geführt hat. Man stelle sich vor: Doyles`s „Baskerville“ (ja, auch das ist Literatur), die Dunhill befüllt mit 965, Nachtschatten im Raum…und alles auf dem 3.5-Zoll iPod Display ? Wie soll das gehen ? Das kann nicht gehen. Nicht jetzt und nicht mit meiner (Leser-) Generation.
Am 20. April 2009 um 18:12 Uhr
Leseanreiz. Versuchte weiterzuassoziieren, was Sebastian Mary forderte: Let’s take short-form digital writing seriously. Das E-Book eben nicht nur als Reader für nicht-fragmentierbare Long-Form-Texte im DRM-Safe. Sondern zunächst vielleicht mal als hypertextfähiges „Notizbuch“, das auch für belletristische Inhalte neue Rezeptionsgefühle ermöglichen könnte. Gesamtkomposition und Spannungsbögen können/müssen dann nicht nur linear funktionieren, sondern auch – vernetzt. Naja, vielleicht überinterpretiert. Aber was weiß man? Ein Musiker erzählte mir neulich, dass die Kids selbst von Best-of-Alben nur noch die ersten 30 Sekunden der Songs auf ihren iPods anhören und dann weiterspringen.
Am 29. März 2010 um 12:52 Uhr
Ich bin ebenfalls der Ansicht, „dass man die Analogie zwischen Tunes und Literatur nicht zu weit treiben sollte.“
Ein Vergleich mit Spielfilmen bringt uns vielleicht weiter: Wird Youtube dafür sorgen, dass sich niemand mehr eineinhalb bis drei Stunden lange Filme anschauen wird? Ich denke eher nicht, auch wenn es Spass machen kann, Lieblingsszenen anzuschauen und anderen zu zeigen.
Trotzdem: Für den Film wie für den Roman wird meiner Ansicht nach weiter gelten: „Bei einem längeren erzählenden Text [oder Film] stehen […] noch immer die Gesamtdramaturgie, Spannungsbögen und Gestaltungswechsel als Qualitätsmerkmale im Raum.“
Das Zappen erkläre ich mir mit dem Überangebot. Ich bemerke ja bei mir selber auch, dass ich Unmengen an Material sammle und abspeichere, viel mehr als ich jemals werde aufnehmen können.
Ich ertappe mich auch immer wieder bei diesem kurzen, nervösen Picken. Ich lese aber noch immer sehr gerne dicke Romane, sofern sie mich zu fesseln vermögen – und das ist eine Frage der Qualität und des Geschmacks.
Vielleicht ist das Zappen eine Chance für Aphorismen und kurze Lyrik – kurze Formen überhaupt? Ohne den gleichzeitigen Untergang des Langen?