Kuckucksei

13. November 2008

Green Eye

Lauren war die älteste von drei Geschwistern. Ihr Bruder und ihre Schwester waren blond und hellhäutig und hatten taubengraue Augen wie der Vater. Laurens Haar war schwarz und ihre Augen grün. Ihre Haut wurde braun wie Milchkaffee, wenn nur ein Sonnenstrahl darauf fiel. Dass etwas mit ihr nicht stimmte, hatte sie schon immer geahnt.

Schau mich nicht so an mit deinen sündigen Augen!, hatte die Mutter oft zu ihr gesagt. Was sie damit meinte, konnte Lauren sich nicht erklären. Aber sie lernte, mit gesenktem Blick zu gehen und niemandem in die Augen zu sehen, auch nicht, wenn sie mit jemandem sprach.

Schon einmal, erzählte sie mir, hatte sie ähnlich verzweifelt wie am Tag des Unfalls am Gartentor gestanden und auf die Straße gestarrt. Sie war vielleicht sechs und verstand nicht, was die Kinder meinten, die von der gegenüberliegenden Straßenseite im Chor herüberschrien: Lauren ist ein Kuckucksei! Lauren ist ein Kuckucksei! Sie verstand nur, dass es sie verletzen sollte, und sie ahnte, dass es sie verletzen würde, wenn sie sich von einem Erwachsenen erklären ließ, was das Wort bedeutete.

Du bist ein Kind der Sünde!, schrie der Vater, als sie am Abend weinend davon erzählte. Und er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. So erfuhr Lauren, dass ihre Eltern nicht ihre Eltern waren und sie aus dem Kinderheim zu sich genommen hatten, als sie zwei Jahre alt war.

Ich habe dich adoptiert, ließ der Vater sie wissen. Ich, sagte er. Und: Die Kinder hätten schon recht, dass sie ein Kuckucksei sei. Da gäbe es nichts zu flennen. Sie solle froh sein, eine Familie zu haben. Aber Lauren war nicht froh. Sie empfand auch keine Dankbarkeit, so sehr sie sich auch bemühte, und schlug den Undank dem Berg ihrer Verfehlungen zu.

Als sie schon längst nicht mehr bei ihren Eltern wohnte, erzählte mir Lauren, hätte sie einmal eine Geschichte über einen verliebten Vogelfänger gelesen. Immer wenn er einen Tag vergeblich auf seine Liebste hatte warten müssen, bemalte er einen der gefangenen Vögel mit schrillen Farben und ließ ihn frei. Der Vogel flog dann auf in einen Baum und lockte mit seinem Gesang seine Artgenossen an. Waren sie aber da, und er wollte sich dem Schwarm anschließen, erkannten sie ihn nicht als ihresgleichen und hackten nach ihm, bis er tot zu Boden fiel. In dem bemalten Vogel, sagte Lauren, hätte sie sich wiedererkannt. Genauer hätte sie selbst ihre Kindheit nicht beschreiben können.

Das Grün ihrer Augen, das die Mutter so irritierte, ließ sich nicht ausweinen. Einmal ging sie hinunter zum Fluss und schrubbte ihre Haut, bis sie blutig war, doch die dunkle Farbe der Sünde blieb.

Mit siebzehn lernte Lauren in der Nachbargemeinde einen verheirateten Mann kennen, der ihr Komplimente machte und ihr als erster Mensch überhaupt wirkliche Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Ihm gefielen ihre Augen. Er mochte es, wenn sie ihn ansah. Sie ließ sich auf ein Date ein und alles mit sich geschehen.

Als ihre Tage ausblieben, wurde sie panisch. Ihr Vater würde nicht dulden, dass sie eine solche Schande über die Familie brachte, und eine Abtreibung galt als Mord. Man würde sie fortschicken, damit sie von der Gemeinde unbemerkt ihr Kind austragen könnte. Dann aber würde man es ihr wegnehmen und in ein Heim stecken, wie sie selbst von ihrer Mutter in ein Heim gesteckt worden war – ein weiterer bemalter Vogel. Eine schlimmere Strafe war nicht auszudenken.

Lauren beschloss zu handeln. Sie überredete einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, den sie leidlich angenehm fand und dem sie aus irgendeinem Grund vertraute, sie zu heiraten. Dass sie ein Kind erwartete, verschwieg sie. Warum er keinen Verdacht schöpfte und sofort einwilligte, blieb Lauren ein Rätsel. Aber dieses Warum kümmerte sie auch nicht. Sie durfte ihr Kind bekommen und behalten. Das war das einzige, was für sie zählte.

An jenem Tag, an dem ihre Mutter vor den roten Pickup lief, war Lauren zum ersten Mal nach der Entbindung bei den Eltern zu Besuch. Sie ließ ihre Mutter das Baby halten und triumphierte dabei, dass sie der Strafe entgangen war. Sie hatte den erbarmungslosen Herrn überlistet und ihr Kind gerettet.

Deine Mutter ist für ihre Sünde gestorben, und auch du wirst nicht einfach so davonkommen. Das waren die letzten Worte ihres Vaters, als sie schließlich die Gemeinde verließ. Seither glaubte Lauren, ihre Mutter sei absichtlich vor das Auto gelaufen. Sie musste erkannt haben, dass ihre Tochter die gleiche Sünde auf sich geladen hatte wie einst sie selbst, dass sie aber bereit gewesen war, eine weitere und zur Not noch viel mehr Sünden zu begehen, um ihr Kind zu beschützen.

Ich hatte mich geweigert, erzählte mir Lauren, schon im Leben für meine Sünde zu büßen. Und ich bin damit durchgekommen. Deshalb ist meine Mutter gestorben. Sie hat meine Strafe auf sich genommen.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

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