Lauren

12. November 2008

Zichronis Handschuhe

••• Zichroni hat zwei Arten von Visionen fremder Erinnerungen.

Ich hatte herausgefunden, dass ich nur dann wirklich mit dem erinnerten Selbst eines Gegenübers verschmolz, wenn ich die Person berührte und ein direkter Hautkontakt bestand. Beschränkte ich mich auf Blicke, war es mir möglich, als reiner Beobachter in die erinnerte Welt meines Gegenübers einzutauchen. Ich stand dann zwar inmitten der Angstlandschaften und hörte die Dämonen geifern und drohen; aber ich blieb ich selbst und wusste, dass sie nicht mich meinen konnten.

Um Visionen der ersten Art zu vermeiden, trägt Zichroni seit seiner Praktikumszeit in einer Psychiatrie weiße Baumwollhandschuhe. Nicht jedoch, als er Lauren zum ersten Mal begegnet…

 

Bevor ich Lauren traf, hatte ich im Schwesternzimmer die Medikamente für die Nachmittagsausgabe vorbereitet und beim Hantieren mit Pillen, Flaschen und Bechern meine Handschuhe abgelegt. Sie steckten noch immer in meiner Kitteltasche. Und nun hielt ich Laurens Hand.

Ich hörte das Geräusch über Asphalt kreischender Reifen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall; und ich wunderte mich, dass ich plötzlich statt der geschwächten Lauren ein schreiendes Baby im Arm hielt. Bevor ich überhaupt realisieren konnte, dass ich den Kontakt zu mir selbst verlor, war ich schon zu der zwanzigjährigen Lauren geworden. Mit meinem gerade geborenen Sohn im Arm, der aufgeschreckt schrie, lief ich panisch durchs Haus meiner Eltern.

Mein Herz raste. Ich stolperte die Treppen zum Erdgeschoss hinab und ging durch die offenstehende Haustür in den Garten. Ich weinte, während ich über den schmalen Steinweg an den Hecken und Oleanderbüschen vorbei zum Gartentor lief, denn ich ahnte, was geschehen war.

Eben noch hatte ich mit meiner Mutter in meinem früheren Mädchenzimmer gesessen. Sie hatte zugesehen, wie ich mein Kind stillte, und ihren Blick nicht von mir und dem Kleinen abwenden können. So kannte ich meine Mutter nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich jemals zuvor mit solcher Zuneigung angesehen hatte. Als ich sie fragte, ob sie das Baby halten wolle, zitterte sie. Aber als sich der Kleine schließlich in ihren Arm kuschelte, wurde sie ruhig, lächelte und gab ihn mir, nachdem sie mit ihm eine Runde durchs Zimmer gegangen war, zurück.

Ich glaube, er ist jetzt müde, hatte sie gesagt: Und das sei sie auch. Sie würde nach unten gehen und sich hinlegen.

Nicht einmal fünf Minuten waren seitdem vergangen. Als ich nun vorsichtig das Gartentor öffnete und auf die Straße trat, drückte ich das Baby fest an meine Brust. Ein roter Pickup stand mitten auf der Straße vor unserem Tor. Der Fahrer war ausgestiegen und kniete auf dem Asphalt neben einem seltsam verdrehten Körper, der das Kleid meiner Mutter trug.

Ich schrie nicht, wurde nicht panisch. Ich weinte nicht einmal mehr. Alles, was ich fühlte, war Schuld. Ich hatte meine Mutter getötet. Sie lag reglos in einer glänzenden Lache dunklen Blutes vor mir, und es kam mir vor, als würde mein Körper sich ausdehnen und noch breiter und schwerer werden, als ich ihn ohnehin schon empfand.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

Eine Reaktion zu “Lauren”

  1. Heute in der Au « Turmsegler

    […] um 19:30 in der »Buchhandlung in der Au« aus der »Leinwand« lesen. Zum besten gegeben wird das Lauren-Kapitel. Es wird also um Psychiatrie, Psychoanalyse und die »mitunter grauenvoll poetische Hand des […]

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