Es sind so viele Menschen herausgetreten aus der Möglichkeit, überhaupt an etwas anderes als an die Realität zu glauben. Es sind so viele Menschen verarmt.
••• Schon vor Jahren in der »Zeit« erschienen und vermutlich schon ebenso lange online: ein wunderbares Interview mit Friederike Mayröcker. Viele Antworten haben mich sehr berührt, besonders jene auf die Frage, ob sie sich nie ein »gewöhnliches« Leben mit Familie und Kindern gewünscht habe…
Am 5. November 2008 um 13:36 Uhr
Was hat Dich denn berührt an der Antwort?
Am 5. November 2008 um 13:58 Uhr
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Es rührt eine romantische, für mich unmögliche Vorstellung an: radikale Annahme einer Aufgabe – nämlich der Dichtung als Lebensform. Für mich würde das nur sehr begrenzt funktionieren, für eine kurze Zeit. Ich würde das „Opfer an Leben“ nicht bringen wollen und können. Zu vage?
Am 5. November 2008 um 14:07 Uhr
nö. schon verstanden. allerdings scheint es für sie ja kein verzicht zu sein. deshalb hat mich das brührtsein gewundert.
Am 5. November 2008 um 14:18 Uhr
Hm, müsste ich nochmals nachlesen. Ich würde das immer als Verlust annehmen. Gut möglich, dass ich es allein deswegen so gelesen habe. Ich glaube auch, mich an ein tödlich verunglücktes Kind zu erinnern (in einem ihrer Bücher immer wieder angesprochen). Das nahm ich damals als literarisierten Ausdruck eines solchen „Verlusts durch Entscheidung“. Ich bin aber mit der Biographie nicht vertraut.
Am 5. November 2008 um 14:22 Uhr
ich habe es nicht als verlust angenommen. es war einfach keine option.
Am 5. November 2008 um 15:09 Uhr
Heißt: Ich würde immer annehmen, dass der Verzicht als Verlust empfunden wird.
Nur, dass wir uns hier nicht missverstehen.
Am 5. November 2008 um 15:13 Uhr
habe dich schon verstanden. :) ich betrachte es eben nicht so.
Am 5. November 2008 um 15:24 Uhr
Du würdest es nicht als Verlust betrachten, nicht verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben? Naja, das ist mal eine Aussage :-) Ich würde es als Verlust betrachten.
Am 5. November 2008 um 16:13 Uhr
du weisst schon was ich meine. ich finde, man kann auch gut ein anderes leben führen. ausserdem ging es ja darum ob f.m. es als verlust betrachtet.
Am 5. November 2008 um 21:51 Uhr
Gerade diesen Punkt würde ich hundertprozentig unterschreiben. Traurig daran ist nur, dass man sich dermassen rechtfertigen muss, wenn man nicht das Alter (und womöglich den Ruhm) einer Mayröcker hat. Als wäre eine Frau ohne Kinderwunsch irgendwie nicht normal, während Männer sich das leisten können. Dabei kommt es sogar bei Tieren vor. Die ganze Gesellschaft tickt so. Eine Geburt wird von den Kassen übernommen, Verhütungsmittel nicht. Ärzte weigern sich, jüngere Frauen zu sterilisieren, die noch nie geboren haben, als hätte man kein Recht, bewusste Entscheidungen zu treffen. Die Berufung zu etwas anderem als zur Mutter ist sicher ein Teil, und ich finde auch, dass man da absolut radikal sein muss, ohne halbe Sachen; das andere ist eben schlichte Abwesenheit dieses Wunsches. Ich mag (viele, nicht alle :-) ) Kinder anderer Leute, aber ein eigenes ist für mich die absolute Horrorvorstellung, das Schlimmste, was mir passieren könnte. Es ist überhaupt kein Verzicht, und das nervt auch, dass alle davon ausgehen, dass jede Frau heimlich diesen Wunsch hegt und es auf jeden Fall einmal bereuen wird (dito: von Männern denkt das niemand). Es wird Angst vor Verantwortung und Egoismus unterstellt – wenn man aber Eltern fragt, warum sie Kinder haben, hört man nicht ein einziges Argument, das nicht egoistisch wäre. Das ist in Ordnung, menschlich und legitim, aber wieso nicht auch das umgekehrte?!
(Sorry der Ausbruch, das ist ein heisses Thema; ich brauchte ungefähr 5 Jahre, bis ich fähig war, mich nicht mehr zu rechtfertigen.)
Am 5. November 2008 um 22:04 Uhr
den meisten punkten stimme ich zu – ausser der sterilisierung von jungen leuten. man ändert sich einfach mit den jahren und diese entscheidung ist irreversibel. Vieles würde man später einfach anders entscheiden.
Am 5. November 2008 um 22:13 Uhr
Nun ja, vielleicht nicht mit 25. Mit 30 weiss man hoffentlich, was man will und was nicht. Es ist, wie etwa auch bei der obligatorischen Beratung vor einer Abtreibung, reine Bevormundung. Man trifft Entscheidungen und hat danach mit den Konsequenzen zu leben, das ist doch bei allem anderen auch so. Und es ist hier auch dasselbe: Männer können sich unterbinden lassen, wann es ihnen passt (auch wenn das manchmal reversibel ist, aber ohne Garantie). Bei einem Tattoo, einer Brustvergrösserung oder einer Nasenbegradigung ist die Gefahr viel grösser, dass man es dereinst bereut.
Am 5. November 2008 um 22:23 Uhr
Oh je. Ich bin jetzt 33 und denke nicht, dass meine jetztigen Entscheidungen für immer gültig sind. Das mit dem Alter kann man nicht pauschalisieren. Ich zumindest fühle mich immer noch reif. Irgendwie habe ich auch das Gefühl, das bleibt so. ;)
Am 5. November 2008 um 22:34 Uhr
Hihi, Jahrgängerin! Ich fühle mich auch nicht reif in vielen Dingen, und habe auch im Sinn, unreif zu bleiben; natürlich nicht in allen Bereichen. :-) Trotzdem sind einige Eintscheidungen – nicht im vor allem im Kopf getroffene übrigens, wie eben die Kinderfrage, für mich definitiv für immer und ewig entschieden, und da habe ich nicht die geringste Angst, dass sich das je ändern könnte. Das ist natürlich individuell; eine Sterilisierung ist ja auch nicht etwas, das man innerhalb eines Tages oder eines Jahres entscheiden würde. Diese fast lebenslängliche Verhüterei kostet Zeit, Nerven, horrend viel Geld, und ständige Angst, weil es nichts gibt, was wirklich sicher ist (inkl. Sterilisation; ich weiss übrigens nicht, ob ich das wirklich machen würde, ist ja immerhin eine Operation).
Am 10. November 2008 um 00:11 Uhr
mayröcker ist die göttin. hätte sie ein kind bekommen, wäre sie das nicht, weil ein kind die energie der göttin gefressen hätte. sie lebt 24, 5 stunden am tag in der sprache, mayröcker IST die sprache. die sprache hat keine kinder, die sprache selbst kann nicht gebären oder auch nur irgendetwas für den erhalt der menschheit tun.
die göttin der sprache dient nicht der gesellschaft, sie ruht in sich und in jeder ihrer tätigkeiten, die sie wiederum in sprache verwandelt.
Am 10. November 2008 um 12:48 Uhr
Genau, auf den Punkt! Das darf man sich gar nicht vorstellen, Mayröcker und Kinder. Selbst wenn es auf irgendeine Art möglich wäre, sich vom Kind vollkommen freizuschaufeln (was es aber nicht ist, nicht mal wenn mans zur Adoption freigibt), dann hätte selbst eine Urkraft wie Mayröcker nicht Erschaffen können. Ich glaube, ohne diese Diskussion hier wäre mir gar nichts aufgefallen, mir war der Gedanke (allgemein, nicht Mayröcker-spezifisch) immer selbstverständlich – und hätte ich das Interview woanders gelesen, hätte ich gedacht: typisch Grossfamilien-Radisch. Die Frage hat doch mit dem Thema überhaupt nichts zu tun bzw. beantwortet sich von selbst.
Präzisierung noch: die Muttergöttin dient genausowenig der Gesellschaft, sie tut es nur auf andere Weise nicht.
… Das einzige übrigens, was mich selbst an einem Kind brennend interessiert hätte, wäre gewesen, den Spracherwerb zu beobachten.
Am 10. November 2008 um 12:52 Uhr
Soso. Wie steht es denn mit den Männern unter den Künstlern?
Ich kann Dir versichern, da gibt es noch erheblich mehr und Interessanteres an Kindern zu beobachten.
Am 10. November 2008 um 12:59 Uhr
mayröcker beschrieb den akt des schreibens einmal als sexuelle handlung an sich. es versteht sich von selbst, dass ich hier deckungsgleich gehe. die annahme der philiströsen gesellschaft, die menschliche sexualität diene in erster linie der fortpflanzung ist ein groszes lügengebäude.
was aber, das soll betont werden, nicht GEGEN mutterschaft und nicht gegen kinder überhaupt gerichtet ist.
ich glaube, um auf benjamin einzugehen, dasz eine vaterschaft nicht zwingend eine biologische sein musz. die männliche anlage ist hier eine andere als die der frau, von der das kind zwingend abhängig ist. die vaterschaft verstehe ich als eine mentorenschaft. es zeigt sich zb. darin, dasz männer zu einem kind, das nicht biologisch von ihnen abstammt, eine stärkere bindung aufbauen können als vergleichsweise frauen.
Am 10. November 2008 um 13:06 Uhr
Meine Frage war eher so gemeint: Der Dichter kann aber schon gleichzeitg „Vatergott“ sein? Bei Tortugas letztem Kommentar hatte ich den Eindruck, dass Mutterschaft und Kunst sich ausschließen. Dann müsste das gleiche auch für Männer gelten, oder aber alle Künstler wären nur biologische Väter.
Ich kann mir nach diesen Kommentaren Frau Mayröcker nur noch als Nonnenstatue auf einem Sockel vorstellen. Die Ärmste.
Am 10. November 2008 um 13:06 Uhr
Schwer zu sagen (was willst Du hören? :-) ), ich bin ja kein Mann. Aber es ist wohl in allen Punkten leider so, allein schon biologisch, dass sich an Kindern vor allem die Frau erschöpft. Männer können, von der Moral mal abgesehen, ihren Samen streuen und weiterziehen, und sie schütten keine Vaterschaftshormone aus, die den Geist auf Sparflamme fahren. Verantwortungs- und liebevolle Väter allerdings zwacken auch oft einiges an Kraft ab, die die Berufung für sich heischen will … oder etwa nicht?!
Ich widerspreche selbstverständlich nicht, was die interessanten Beobachtungen an Kindern angeht. Ich beobachte ja auch gern anderer Leute Kinder, überhaupt Alles beobachte ich gern und intensiv und übrhaupt nicht gefühlskalt, wie man jetzt meinen könnte; aber doch immer schon im Hinblick auf Papier. Ein eigenes Kind dagegen wäre mein Parasit, weil es mich vom Papier abhielte, und ich wäre seiner, weil ich es als „Sprachobjekt“ missbrauchen würde.
Am 10. November 2008 um 13:10 Uhr
Sicher sind Mütter mehr gefordert. Aber niemand hier spricht von den Erfahrungen, die man nur dank Kindern machen kann und die auch Inspiration und vor allem LEBEN sind. Nach dieser Logik dürfte es keine künstlerisch produktiven Frauen mit Kindern geben – oder keine künstlerisch produktiven Männer, die ihren Kindern auch Väter gewesen wären.
Meint ihr das ernst?
Am 10. November 2008 um 13:17 Uhr
Ja. :-) Erst mal: eines schickt sich nicht für alle. Und natürlich gibt es grosse Künstler mit Nachwuchs (wobei man nicht weiss, ob sie sich ausgeschöpft haben). Aber gerade, weil Kinder Leben sind, sind sie auch ein Halteseil, eine Sicherheit, etwas, das zwischen einem selbst und dem Tod steht, und das ist ein Kompromiss. Wie aber fliegen, wenn nicht ein ständiger furchtbarer Abgrund gähnt, ums mal pathetisch zu sagen?
„Erfahrungen, die man nur dank Kindern machen kann“ – diese Formulierung macht mich offengestanden immer ein bisschen ranzig, obwohl es diese Erfahrungen natürlich gibt. Aber es heisst eben soviel wie „wer keine Kinder hat, ist nicht Ganz“, kann nicht mitreden (ich unterstelle Dir das nicht, hier ist ja der Kontext ein anderer – aber es ist das Argument derjenigen, die die freiwillig Kinderlosen für erfahrungsarm halten). Es gibt jedoch genausoviele Erfahrungen, die man nur dann machen kann, wenn man keine Kinder hat.
Am 10. November 2008 um 13:31 Uhr
Er/sie hat einen bestimmten Bereich menschlicher Erfahrung ausgeklammert. Fragt sich, für wie wesentlich man das hält.
Als da wären? Kinnder zu bekommen, scheint wie Tod zu sein. Kind da: Leben weg und zwar für immer. :-)
Am 10. November 2008 um 13:34 Uhr
Ich bin erstaunt über die Ansichten! Muss ich als Künstler permanent todesbereit sein, um etwas schaffen zu können? Ich brauche keinen gähnenden Abgrund unter mir als Inspiration, Tod schon gar nicht. Für mich hat Kunst noch immer erheblich mehr mit Leben zu tun.
Am 10. November 2008 um 15:15 Uhr
@Benjamin, aber nein doch. Weder nimmt ein Kind das Leben weg noch ist es unerlässlich, um den gesamten (?) menschlichen Erfahrungsschatz auszukosten. Seltsamerweise spricht man zu jemandem, der unfreiwillig kinderlos ist, nicht von diesem vermeintlichen Erfahrungsdefizit – obwohl es auf andere Art genauso verletzend ist. Will nur sagen: man verpasst nichts, weil man keine Kinder hat oder weil man Kinder hat. Man wählt einfach einen Weg. Bei den wenigsten Entscheidungen kann man ja beides haben.
Der Rest ist nur eine Frage der Vorstellungskraft. Ich muss nicht gebären, um mir Geburtsschmerz vorstellen zu können, muss nicht an der Diplomfeier einer Tochter gewesen sein, um den Stolz zu fühlen etc. Umgekehrt kann sich ein „Elter“ vorstellen, wie es ist, kindfrei 50 zu werden, beispielsweise.
Ich würde nicht sagen jederzeit todesbereit (bereit zu sterben für das, was man tut, das schon), aber todesbewusst. Ohne die ständige Gegenwart des Todes könnte ich das Leben gar nicht wahrnehmen. Seit wann sind Leben und Tod Gegensätze? Sie bedingen einander. Ich werde relativ rasch depressiv, wenn ich zu lang unter Leuten bin, die offenbar den Tod nicht neben sich spüren – dazu gehören oft auch Kinder, naturgemäss. Warum das so ist, weiss ich nicht.
Ein Punkt ist wohl auch die Einsamkeit: ich muss diejenigen, die ich liebe, vollkommen aussperren, während ich arbeite (inklusive mich selbst). Mit einem Kind kann man das nicht, es ist immer da and ever after (oder?). Für andere mag diese Einsamkeit keine Voraussetzung sein.
Der Zölibat, glaube ich, entspringt nicht irgendwelchen lustfeindlichen, puritanischen Moralvorstellungen, sondern aus den Urzeiten der Priester, Sänger, Schamanen, den Vorfahren der Dichter, und das ist bestimmt nicht von ungefähr.
Am 10. November 2008 um 17:16 Uhr
Meinen unmaßgeblichen Informationsquellen zufolge ist es eine relativ späte Einrichtung der katholischen Kirche, die einzig dem Besitzerhalt diente: Aller Besitz von Klerikern fällt per Erbe nicht an irgendwelche Kinder, sondern zurück an die Kirche.
Am 10. November 2008 um 17:20 Uhr
@Tortuga: Ich kann wirklich nicht verstehen, warum man mit dem Tod vor Augen bessere Kunst machen sollte. Ich sehe da keinen Zusammenhang.
Am 10. November 2008 um 17:56 Uhr
Die Kirche hat den Zölibat, wie so vieles andere, erst institutionalisiert und zu ihren eigenen Zwecken missbraucht. Erfunden hat sie ihn bestimmt nicht (und er bedeutet eben auch nicht: „du sollst dein Fleisch kasteien“, sondern wohl das, was Jesus meinte, als er sagte (sinngemäss, an den genauen Wortlaut erinnere ich mich nicht): wer seine Familie über mich stellt, ist es nicht wert, mir zu folgen).
Das mit dem Tod kann ich nicht erklären. Es ist für mich einfach so. Und es ist auch das, was jedes gute Gedicht in seiner Essenz ausmacht. Wo das nicht spürbar ist, ist auch keine Erschütterung. Und ein Gedicht ist ja nicht ein „Das-Leben-ist-so-schön“-Geschenkbuch-Spruch, kein Trost, sondern eine Mahnung.
Am 10. November 2008 um 18:38 Uhr
dasz ein gedicht „mahnung“ sein soll, halte ich nun aber für ein eklatantes miszverständnis, gute kröte. diese art von moralischem schrecken möchte ich doch nun – bei aller liebe zur freiheit – als abgetan wiszen. lyrik ist ein ort der wahrnehmung. das zunächst.
Am 10. November 2008 um 18:54 Uhr
Doch nicht im moralischen Sinne. Ja, das Wort „Mahnung“ ist zu unpräzis und missverständlich und mit zuviel anderem Mist konnotiert. Wie soll ich denn sagen? Erinnerung? Ahnung? Spiegel? Kann man alles missverstehn. „Ort der Wahrnehmung“ ist richtig, aber ich suchte etwas weniger allgemeines, denn Prosa kann das auch sein.
Am 10. November 2008 um 19:12 Uhr
prosa kann nur dann, was lyrik kann, wenn sie lyrisch ist. ich schrieb das jüngst: was ‘prosa’ oder ‘in prosa’ ist, ist eine frage des tons, des rhythmus, des symbolischen nacheinander (und damit der wortfunktion), des linearen verlaufs; nicht jedoch eine frage der wortbedeutung, auch nicht eine frage des sinns von sätzen, absätzen, texten.
prosa kann das eben von haus aus nicht sein, wenn sie ihre muster nicht auflöst.
aber das hat mit dem thema, das ohnehin in seiner diskutierten grundlage für den arsch war, nichts mehr zu tun. ich empfehle mich.
Am 11. November 2008 um 19:16 Uhr
ist auch gut so, herr p.-!