Dramaturgie eines Verhörs (III)

7. Oktober 2008

••• Keine Oper ohne Ouvertüre. Auch das Verhör-Kapitel braucht eine. Wie wäre es mit einem Exkurs über Angst und Scham?

 

Ich hasse es, überprüft zu werden. Nicht einmal die vorhersehbare Fahrkartenkontrolle in der U-Bahn in den ersten Tagen eines jeden Monats überstehe ich ohne Herzrasen und einen Adrenalinstoß, der mich Minuten später noch fahrig macht. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Es ist eher die Angst, bei einem versehentlichen Fehltritt ertappt zu werden oder mich für ein Fehlverhalten rechtfertigen zu müssen, das ich nicht erklären kann.

Ich fahre nicht etwa gewohnheitsmäßig schwarz. Wenn aber die Kontrolleure beim Abfahrtsignal zusteigen, ihre Ausweise zücken und nach den Fahrkarten verlangen, überkommt mich Panik. Ich könnte vergessen haben, eine neue Monatskarte zu kaufen, oder meine Brieftasche liegt zu Hause, und ich kann die Karte nicht vorweisen. Die zu erwartende Strafe schreckt mich bei diesen immer wiederkehrenden Vorstellungen weniger als die zu erduldende Peinlichkeit, wenn man sich ertappt geben und vor aller Augen die Prozedur der öffentlichen Personalienaufnahme über sich ergehen lassen muss.

Ähnlich unangenehm sind die Interviews, denen man unterzogen wird, während man am Ben-Gurion-Airport in der Schlange vor dem Checkin wartet. Eine kleine Armee von psychologisch geschulten Flughafenmitarbeitern in Zivil stellt jedem Abreisenden eine Reihe von Fragen. Sie haben das Ziel, den Befragten zu verunsichern, um herauszufinden, ob jemand mit falschen Papieren oder gar in terroristischem Auftrag unterwegs ist. Die Interviewer interessieren sich nicht wirklich dafür, wie die Großmutter heißt, ob man von ihr das Alephbet gelernt hat und wann das war? Auch den Namen der Heimatsynagoge, das Alter der Kinder und das Jahr der eigenen Einschulung werden sie umgehend wieder vergessen. Aber sie behalten sehr genau im Blick, wie man sich gebärdet. Sie registrieren, ob und bei welchen Fragen man wie lange zögert, ob man unwillig reagiert oder gar aggressiv. Und man hat keine Wahl: Zur Gepäckaufgabe wird man erst durchgelassen, wenn man den Interviewer überzeugen konnte, dass man nichts zu verbergen hat und wirklich derjenige ist, als den der Pass einen ausweist.

Ich kenne die Prozedur. Ich weiß, dass sie im Interesse der Sicherheit nötig ist. Dennoch bringen mich die Fragen auf die Palme. Was geht es dich an?, schießt es mir bei der ersten Indiskretion durch den Kopf. Ich bin immer versucht, die Aussage zu verweigern und muss mich zwingen zu antworten. Natürlich merkt man mir den Unwillen ebenso an wie den Stress, den mir die Fragerei bereitet. Folglich fallen meine Interviews jeweils besonders ausführlich aus, und die »selectors« treiben das Spiel bewusst auf die Spitze, um sicherzugehen, dass ich nicht etwa gefährlich, sondern nur ganz gewöhnlich wunderlich bin.

Die Angst vor einer unerwarteten Kontrolle, die eine unwissentliche oder sorgsam verborgene Sünde aufdeckt, steckt seit meiner Kindheit in mir. Aus reinem Übermut habe ich mit sieben oder acht Jahren in einem Schreibwarenladen einen Radiergummi geklaut. Ich steckte ihn in die Tasche, lief kaltschnäuzig aus dem Laden und wurde nicht erwischt. Zu Hause wagte ich allerdings nicht, ihn zu benutzen, ja auch nur aus der Jackentasche zu holen. Hätte meine Mutter den Radiergummi entdeckt und wissen wollen, woher ich ihn habe, wäre ich unter der Befragung sofort in die Knie gegangen und hätte alles gestanden. Die Peinlichkeit, das Diebesgut in den Laden zurückzubringen und mich zu entschuldigen, hätte sie mir nicht erspart. Obendrein hätte ich den vollen Preis als Strafe von meinem Taschengeld entrichten müssen. Auf das Geld gab ich wenig. Die Peinlichkeit der öffentlichen Selbstbezichtigung aber kam mir um Welten schlimmer vor, als ich mir eine Haftstrafe bei Wasser und Brot vorstellte.

Lediglich ein Alptraum hat mich als Jugendlicher einmal in eine ähnliche Panik versetzt. Ich lag in meinem Bett und im Bettkasten unter mir meine Großmutter. Ich hatte sie getötet. Wie und warum es geschehen war, wusste ich nicht. Ich liebte sie abgöttisch und konnte mir keinen Grund vorstellen, der mich zu der Tat getrieben haben könnte. Aber sie war tot, und ich war ihr Mörder. Ihre Leiche lag unter mir im Bettkasten, und ich wusste, dass ich sie dort nicht auf Dauer verbergen, aber auch nirgendwo hinbringen konnte. Also war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand den Geruch der Verwesung bemerken, den Bettkasten öffnen, die Leiche finden und mich überführen würde. Die Trauer darüber, dass meine Großmutter tot war, schmerzte. Aber kein Gefühl hätte das der panischen Angst übersteigen können, die ich erlebte in Erwartung der unabwendbaren Entdeckung meiner Schande und der öffentlichen Bloßstellung vor einem Gericht, dem ich noch nicht einmal erklären konnte, wie und vor allem warum ich den Mord begangen hatte.

Der Traum kehrte in abgewandelter und abgeschwächter Form über die Jahre gelegentlich wieder. Es waren andere Personen, die mir zum Opfer fielen. Mitunter kannte ich sie nicht einmal. Immer gleich aber war in den Träumen die Unausweichlichkeit der Entdeckung meiner Schuld und die Angst davor, wenn ich sie auch nie wieder so heftig erlebte wie in dem Traum, in dem ich zum ersten Mal zum Mörder wurde.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

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