Synagoge am Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg
Die Erfahrung der wenigen Stunden Exil, die ich am Spreeufer in Kreuzberg gemacht hatte, war noch frisch. Vielleicht glaubte ich, dass ich, da ich diese Stunden überstanden hatte, auch bewusst Abschied vom Kleinen Land nehmen könnte. Alles würde sich ändern. Das war damals jedem klar. In einigen Stadtbezirken wurde die Mauer bereits abgerissen. Helmut Kohl tourte durchs Land und badete sich in den Sprechchören: »Wir sind ein Volk!« Mir kam das vor wie eine offene Drohung.
Die mutigen Vordenker des Wandels traten bald ab. Kaum jemand war an ihren Utopien für einen fortschrittlichen Wandel des Kleinen Landes interessiert. Das Gros der Menschen war auf den Ameisenstraßen unterwegs und hortete Westprodukte. Alle redeten von Freiheit. Mir kam es vor, als sei damit nichts anderes als die bunten Scheine der D-Mark gemeint.
Ich kehrte der Synagoge in der Rykestraße den Rücken. Zu viele unangenehme Erinnerungen hingen an diesem Haus. Ich wechselte zur Synagoge am Kreuzberger Fraenkelufer. Mein einziger Freund aus der Rykestraße, der etwa in meinem Alter war, kam mit. Wie wenig wir wussten und wie verschoben unser Bild von der jüdischen Welt war, begriffen wir erst dort, wo wir einer Normalität, wie wir sie uns immer erhofft hatten, immerhin viel näher waren.
Dennoch glaubte ich, nur in Israel würde ich wirklich herausfinden können, wer ich bin, wie es um mein religiöses Empfinden steht und welchen Weg ich nehmen sollte. Also informierte ich mich über Möglichkeiten, in einem nicht gar zu sozialistisch ausgerichteten Kibbuz zu leben und Iwrit zu lernen. Mein hebräischer Wortschatz beschränkte sich damals ausschließlich auf die Vokabeln des Gebetbuches, und die Grammatik, die ich gelernt hatte, war die Grammatik der Torah und der liturgischen Gedichte. Niemand, beschied man mir, rede heute so.
Ich gab mir vier Monate, um meine Zelte in Berlin abzubrechen. Ich wollte verkaufen, was sich verkaufen ließ – viel war es ohnehin nicht – und lediglich mit einem Koffer in das neue Leben aufbrechen. Was ich bislang als Heimat betrachtet hatte, würde sich schon bald auflösen. Das Exil, so pathetisch sah ich es, war ohnehin nicht zu vermeiden. Dann wollte ich mir das Land, in dem ich leben würde, wenigstens selbst aussuchen.
Das Ticket ist verfallen. Nahezu bis zum letzten Tag habe ich mit mir gekämpft. Selbst am Morgen des 6. Juni 1990 habe ich noch auf die Uhr gesehen und überlegt, dass ich es noch immer schaffen könnte, wenn ich nur wollte. Aber ich bin zu Hause geblieben, und das Flugzeug hob ohne mich ab.
Da ich niemandem von meinen Plänen erzählt hatte, musste ich mich auch nicht rechtfertigen, warum ich gekniffen hatte. Vor mir selbst nannte ich meine Feigheit durchaus beim Namen. Die Entschuldigung, die ich vor mir selbst bemühte, lautete, dass ein Autor nicht aus dem Land seiner Sprache auswandern kann, ohne dabei zu riskieren, als Künstler für immer stumm zu bleiben. Ich sah mich ganz selbstverständlich als Autor und hielt mich für talentiert. Ich hatte keine Veröffentlichungen vorzuweisen. Aber diesen Umstand schrieb ich allein den politischen Umständen zu. Aus dem Land meiner Muttersprache fortzugehen, kam mir wie ein Verrat an meinem Talent vor. Dass ich mich in einer anderen Sprache je so wie im Deutschen ausdrücken könnte, war mir unvorstellbar.
Hätte ich damals mit meinen Freunden über meine Pläne gesprochen, hätten sie vielleicht Autoren wie Nabokov und Aitmatow erwähnt, Schriftsteller, die wir verehrten und die ihre größten Werke in einer Sprache verfasst hatten, die nicht ihre Muttersprache war. Aber ich bezweifle, dass sie mir zugeraten hätten. Es musste jedem als Schnapsidee erscheinen, in ein Land auszuwandern, von dem wir so wenig wussten wie von Israel und in dem das tägliche Überleben unsicherer schien als die Frage, ob ich überhaupt je einen großen Roman zur Papier bringen könnte.
Also bin ich damals nicht in das Flugzeug gestiegen.
Dass ich nie Iwrit gelernt habe, musste ich fortan damit begründen, dass ich nicht in einer Sprache beten will, in der ich ebenso andere beschimpfen oder auf dem Markt um einen Fisch feilschen könnte. Das Hebräische sollte für mich exklusiv dem Gespräch mit dem Ewigen vorbehalten bleiben. Natürlich war das eine faule Ausrede. Ich habe ein Talent für Sprachen. Hätte ich aber jemals Iwrit so weit beherrscht, dass ich in dieser Sprache schreiben könnte wie auf Deutsch, wäre mein einziges Argument, in Deutschland zu bleiben, in sich zusammengebrochen. So aber kann ich noch heute behaupten, dass ich allein durch die Sprache an dieses Land gebunden bin. Sie ist der Käfig, in dem der Panther umhergeht, seit die Mauern um das Kleine Land gefallen sind. Die Vorstellung, mich wirklich zu befreien, konnte ich offenbar nie ertragen und habe bereitwillig den einen mit einem anderen Käfig getauscht.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)