Nach Israel

5. Oktober 2008

Clouds In Sky – © Juliet Lofaro
Clouds In Sky – © Juliet Lofaro

Ich stand noch eine Weile im Hof und beobachtete die Taube bei ihren verzweifelten Ausbruchversuchen. Dann ging ich nach oben. Als ich meinen Mantel aufhängte, entdeckte ich sie auf dem Fensterbrett.

Was soll ich tun?, hörte ich mich fragen. Ich beugte mich hinunter und sah tief in ein starres, gelb geschecktes Auge, das mich zu mustern schien. Die Taube gurrte, schlug mit den Flügeln und flog davon. Da ist mir etwas aufgegangen.

Will man etwas wiederfinden, muss man dorthin zurückkehren, wo man es verloren hat. Das Wort »Berndeutsch« hatte genügt, mir in Erinnerung zu rufen, wo meine Mutter lebt. Vielleicht, dachte ich, würde auch der Rest meiner verlorenen Erinnerungen wieder auftauchen, wenn ich nach Israel zurückkehrte. Was immer meine Erinnerungen fortgespült hat, die ich loswerden wollte – es muss in Israel geschehen sein, wohin ich Ende letzten Jahres zum ersten Mal gereist bin.

Ich habe online sofort ein Ticket für den nächsten erreichbaren Flug gebucht. Ich hatte Glück. Schon heute, ganze zwei Tage später, sitze ich in einem Flugzeug der El-Al und bin unterwegs nach Tel Aviv. Ich reise mit leichtem Gepäck. Lediglich den Pilotenkoffer habe ich mitgenommen – mit allem, was sich darin befand, als mein Nachbar Molina ihn über meine Schwelle trug und in meiner Wohnung abstellte. Da der Koffer sich nicht mehr schließen lässt, habe ich längs einen Gürtel umgeschnallt, der ihn zusammenhält. Wie in früheren Zeiten habe ich den Koffer nicht aufgegeben, sondern als einziges Handgepäckstück in die Maschine getragen. Er liegt unterm Sitz meines Vordermanns. Ich kann ihn jederzeit öffnen, um in einem der Bücher zu lesen oder einen der Gegenstände herauszunehmen, ihn zu begutachten und zu versuchen, mir doch noch ins Gedächtnis zu rufen, woran er mich erinnern sollte.

Wir fliegen hoch, über einer dichten Wolkendecke. Ich bin völlig ohne Orientierung. Das Flugzeug könnte zu einem beliebigen Ziel unterwegs sein. Ich kann nicht sagen, wohin es mich bringt.

Ich habe mich schon einmal so verloren gefühlt. Das ist gut 18 Jahre her. Mein erstes Ticket nach Israel habe ich 1990 bei einem Reisebüro in Ost-Berlin gebucht und mit Ost-Mark bezahlt. Es war ein One-Way-Ticket von Berlin-Schönefeld nach Tel Aviv, gebucht vier Monate im Voraus für den 6. Juni 1990, meinen Geburtstag. Niemand wusste davon.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

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