••• Auf den letzten Metern (die drei letzten Kapitel der „Leinwand“) wird es noch einmal richtig schwierig. Wie schon im Zichroni-Strang müssen es drei Kapitel werden, die wie Erzählungen in sich geschlossen sind. Das Thema des aktuellen Kapitels hat es in sich: Gilgul (Seelenwanderung). Das Grundmotiv sind Übergänge.
Die äußere Klammer ist ein geographischer Übergang, ein Flug von München nach Tel Aviv. An unterwegs auftauchenden Motiven wird das Thema des Übergangs variiert. So wird das Thema der Mikwe wieder aufgenommen, deren reinigendes Wasser Übergänge zwischen verschiedenen ideellen Zuständen bewirkt. Auch Vögel spielen eine Rolle, die einer im Sohar geäußerten Ansicht zufolge die Seelen von Menschen aufnehmen können, die in den Körpern der Vögel auf eine Wiedergeburt in einem anderen Menschen warten…
Als ich nach Hause zurückkam und in den Hof trat, hörte ich über mir wildes Flattern. Ich blieb stehen und blickte nach oben. Eine Taube taumelte zwischen den Mauern hin und her. Das Hinterhofeck unseres Hauses ist mit einem Netz überspannt. Ohne dieses Netz wäre der Hof ein Sammelplatz für Vögel. Im Erdgeschoss befindet sich eine Wirtschaft. Die Tonnen für die Küchenabfälle stehen im Hof. Sie sind ein Magnet für Tauben. Das Hauseck ist für sie so attraktiv, dass es ihnen immer wieder gelingt, Löcher in das Netz zu reißen. Da sie nicht sehr intelligent sind, gelangen sie so zwar ins Paradies, finden aber nicht mehr den Weg hinaus. Dann suchen sie hilflos nach einem Schlupfloch, bis sie erschöpft sind. Sie ruhen sich aus auf den Fensterbänken unserer Flurfenster, die zum Hof hinausgehen, und überziehen sie mit einer weißgrünlichen Patina.
Ab und an kommt der Taubenfänger, sammelt die Gefangenen ein und stopft das Netz. Es dauert jedoch nie sehr lange, bis es wieder zerrissen ist und erneut eine Taube im Paradies umherirrt, aus dem sie nicht mehr entkommen kann. Die Fenster zu öffnen, empfiehlt sich dann nicht. Der Drang nach Freiheit lässt die Tauben mutig werden. Sie würden ohne Zögern auch in die Wohnung fliegen.
So picken sie gegen die Fenster und hinterlassen mit ihren Flügeln fettige Schlieren auf den Scheiben. Man kann sich gehörig erschrecken, wenn man über den Flur geht und nicht darauf gefasst ist, plötzlich eine Taube vor sich zu haben, die lautstark gurrt und einen aus starren, schillernden Augen anstarrt. Meine Tochter trommelt dann manchmal ans Fenster. Damit rächt sie sich für den Schrecken, den das Tier ihr eingejagt hat, und ich müsste sie bremsen.
Aber was soll ich ihr sagen? Verscheuch den Zaddik nicht!? Es ist nicht leicht, einem Kind zu erklären, was ich selbst erst spät gelernt habe.
Meine Mutter nannte die Stadttauben immer nur Luftratten. Als ich nach München kam, war ich kein Taubenfreund. Ich mag sie noch immer nicht, aber ich kann ihnen heute nicht mehr mit der sorglosen Ablehnung begegnen wie früher.
Vor einigen Jahren stand ich mit unserem Maschgiach schwatzend auf der Straße und verscheuchte eine Taube. Er wurde umgehend bleich und wies mich zurecht.
Eine Taube, die sich uns nähert, sagte er, ist die Seele eines Gerechten, die uns besuchen will. Verjagst du sie, weist du den Besuch eines Zaddik zurück.
Das war mir neu, und ich sah den Maschgiach zweifelnd an; aber er meinte es sehr ernst.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Am 21. Januar 2010 um 11:21 Uhr
Und wieder sitzen sie schon seit Tagen eingefangen im Hof.
Am 21. Januar 2010 um 17:16 Uhr
Ich frag mich nur, wie sie reingekommen sind. Ich habe gar kein Loch im Netz entdeckt. Na, neben den Mülltonnen werden sie jedenfalls nicht verhungern. Heute früh hat David mit ihnen geschäkert. Sie saßen, Kopf unterm Flügel, auf dem Flurfensterbrett.