Der Schochet schärft das Messer, nicht mit Wasser, sondern mit Tränen
© Nemo @ My Ramblings
Der Beruf des Maschgiach ist wenig aufregend, gelegentlich allerdings blutig. Ein Maschgiach ist ein Hüter der Seelen. Er wacht über die Kaschrut in den Gemeindeeinrichtungen. Meist pendelt er zwischen Altenheim, Restaurant und Metzgerei, ist einen Tag hier, einen Tag dort. Er inspiziert die gelieferten Zutaten, wäscht und untersucht den Salat auf Ungeziefer, schlägt die Eier einzeln auf, um sie auf Blutstropfen zu untersuchen, und er schaut den Köchen über die Schulter. In der Metzgerei verwahrt er den Schlüssel zum Kühlraum und versiegelt mit dem Aufkleber des Rabbinats die eingeschweißten Fleisch- und Wurstpakete, bevor sie ausgeliefert werden.
Ab und an, wenn geschächtet wird, fällt ihm die Aufgabe zu, das Ausbluten der Hühner zu beaufsichtigen. Die Seele der Vögel verlässt mit dem Blut ihre Körper und schwebt, solange das Blut noch fließt, im Raum. Erst wenn das Tier sich nicht mehr rührt und das Blut mit Sand bedeckt wird, nimmt die Seele Abschied, und man darf das Huhn rupfen. Beine und Flügel müssen auf Brüche und die winzigen Lungen auf Verletzungen untersucht werden, die auf frühere Krankheiten deuten könnten. An solchen Tagen arbeitet neben dem Schochet, der das Messer führt, auch der Maschgiach im Akkord.
An den großen Jeschiwot der Welt wachen die Maschgichim nicht nur über die Reinheit des Essens, sondern auch über die spirituelle Entwicklung der Schüler. Sie sind Seelsorger, die ersten Ansprechpartner, wenn Zweifel laut werden oder ein übergroßes Selbst aufbegehrt. Eine solche Aufgabe passt gut zu Menschen, die sich den unerklärlichen Gesetzen des koscheren Essens verschrieben haben. Man muss eine Affinität zum Spirituellen haben, um über Verbote zu wachen, die wissenschaftlich nicht zu begründen sind, sondern nur in einer mystischen Dimension von Gehorsam, Demut und seelischer Reinheit bedeutsam werden.
Unseren Maschgichim fällt diese Aufgabe nicht zu. Sie begleiten die Seelen von Hühnern von der Schneide des Messers in die Sphäre des Übergangs. Den Dienst an unseren Seelen verrichten sie im Verborgenen und werden dabei nicht wahrgenommen. Kaum einer von ihnen bleibt lange in der Stadt, was vermutlich daran liegt, dass Menschen dieses Schlages auf Dauer in einer spirituellen Wüste nicht überleben können.
Der Maschgiach, der mich über die Seelen der Vögel aufklärte, trug sicher nicht von ungefähr den Namen eines Engels: Ariel. Was ich über Torah, Talmud und die Kabbala weiß, habe ich von ihm gelernt. Auch er ist schon lange weitergezogen. Ganze zwei Jahre konnte ich mit ihm lernen. Als er fortging, ist der Kontakt abgerissen. Ich weiß nicht einmal, wo er heute lebt.
Wäre er hier, würde ich mich ihm anvertrauen. Ich bin sicher, er hätte Verständnis und vielleicht sogar eine Erklärung für meine verworrene Situation. Aber er ist fort, und ich bin, was meine Zweifel angeht, auf mich allein gestellt.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)