Einige Stunden Exil

27. September 2008

Grenzübergang Oberbaumbrücke
Grenzübergang Oberbaumbrücke – Peter Frischmuth / Argus

Nicht zuletzt hebe ich in der Kassette seit 1990 meinen entwerteten DDR-Pass auf. Ich wollte ihn nie wegwerfen. Im November 1989, kurz nach der Öffnung der Grenzen, habe ich ihn erhalten. Vor der Passstelle warteten dutzende Menschen, und ich musste stundenlang warten, bis ich an der Reihe war. Ich erhielt nicht nur den Pass. Ein Dauervisum für Reisen nach Westberlin und in die BRD bekam ich dazu, das erste und einzige Visum, das je in diesen Pass gestempelt wurde. Ganze zehn Monate später gab es das Kleine Land nicht mehr, und man brauchte erst recht kein Visum mehr, um »in den Westen« zu fahren. Der Pass war nur noch ein Erinnerungsstück. Das wollte ich behalten. Als ich meinen BRD-Pass bekam, sollte ich den blauen Ost-Pass abgeben. Das lehnte ich ab. Der Beamte grinste, nahm einen Locher, stanzte ein paar Löcher hinein und überstempelte alle Seiten in roter Farbe mit dem Wort UNGÜLTIG. Dann gab er ihn mir zurück.

Ich habe nicht gezögert, bin gleich von der Passstelle aus zum Bahnhof gegangen, in die S-Bahn gestiegen und zur Friedrichstraße gefahren. Solange ich lebte, war hier die Endstation gewesen.

»grau grau graues durcheinander
 / von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe / 
sich schwarz zwischen die schienen setzt
 / bahnhof das ist aller orte kältester nachts / 
schläft niemand« Das hatte ich bei Hilbig gelesen, einem meiner liebsten Dichter, dessen Bücher bei uns nur in Abschriften zirkulierten. Und an diese Verse musste ich denken, als ich mich durch die Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war.

Ich fuhr zwei Stationen in Richtung Wannsee, stieg aus und ging in die nächstbeste Bank, um die 100 D-Mark Begrüßungsgeld zu empfangen. Die Bank war voll. Das Geld gab es nicht etwa an der Kasse. Die Angestellten standen mit dicken Bündeln blauer Scheine an den Schaltern und verteilten das Geld. Etwas Vergleichbares habe ich nie wieder gesehen.

Ich weiß noch, dass ich an diesem Tag die Buchhandlungen im Zentrum abklapperte in der Hoffnung, einen Hilbig-Band zu finden. Jeder Buchhändler bot an, das Buch zu bestellen. Aber ich wollte es jetzt, sofort, ohne noch länger zu warten. Überhaupt fand ich es unfassbar, dass in einem Land, in dem man Hilbig lesen durfte, seine Bücher nicht in allen Buchhandlungen auslagen. Vielleicht sagte ich das sogar. Der Verkäufer in der Autorenbuchhandlung am Savigny-Platz zeigte mir jedenfalls einen Vogel.

In einer anderen Buchhandlung habe ich dann immerhin einen Roman gekauft: Salman Rushdies »Satanische Verse«. Sie waren kurz zuvor erst erschienen und Rushdie der Fatwah verfallen, die ihn zwang, im Untergrund zu leben. Ein Buch, in dem es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ging, musste ich einfach besitzen.

Ich blieb bis spät in die Nacht auf der anderen Seite. Mit der U-Bahn war ich nach Kreuzberg gefahren und wollte von dort über die Oberbaumbrücke zurück in den Osten. Die Oberbaumstraße, die vom Skalitzer Tor zur Brücke führt, hieß damals im Volksmund Ameisenstraße. Für Autos war sie in diesen Tagen gesperrt. Tausende liefen Tag und Nacht dort entlang, beladen mit Plastiktüten, in denen sie Obst, Schokolade, Kaffee und Zigaretten nach Hause in den Osten schleppten. Auch in dieser Nacht war kaum ein Durchkommen. Irgendwann stand ich am Spreeufer. Dann ging es nicht weiter.

Die Brücke war damals noch stark gesichert. Übermannshohe massive Stahlgitter versperrten den Weg an der Ost- wie auch an der Westseite. Das Tor, durch das sich die Massen drängen mussten, war nicht größer als eine Tür. Aber auch die Tür war nun verschlossen.

Wir standen über eine Stunde, und nichts geschah. Immer mehr Menschen kamen. Die Menge drängelte und johlte. Ich stand an der Spree, unterm Arm die »Satanische Verse«, starrte hinüber auf die Rückseite der Mauer und war überzeugt, die Grenze sei wieder geschlossen worden. Man hatte uns ausgesperrt. Der Panther wollte zurück in den Käfig, und man ließ ihn nicht ein.

Also hatte ich nichts mehr als das, was ich auf dem Leib trug, dazu einen Roman, den ich noch nicht gelesen hatte und 40,75 Deutsche Mark? Ich weiß nicht, wie meine Urgroßmutter sich gefühlt hat, als sie 1933 bei Nacht und Nebel durch den Wald über die Grenze nach Tschechien lief, in der einen Hand einen kleinen Koffer, an der anderen den kleinen Sohn. Aber was ich empfand in dieser Nacht an der Spree, fühlte sich an wie Exil, der Vorgeschmack auf eine Zukunft ohne Familie und Heimat, ausgesetzt in einer lauten, bunten Stadt, die den gleichen Namen trug wie die, in der ich aufgewachsen war, und doch hatte sie mit meiner Heimat nicht das geringste zu tun.

Es dauerte ewig, bis die Lage sich klärte. Mehrere Schweißer rückten an, um die Stäbe aus dem riesigen Gitter zu brennen. Die Tür war nur geschlossen worden, um das Tor zu öffnen.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

Grenzübergang Oberbaumbrücke
Grenzübergang Oberbaumbrücke – wrangel-kiez.de

Warnhinweis am Spreeufer (Oberbaumbrücke)
Warnhinweis am Spreeufer (Oberbaumbrücke) – Peter Frischmuth / Argus

Eine Reaktion zu “Einige Stunden Exil”

  1. Visum « Turmsegler

    […] einigen Gläsern Talisker Single Malt ertragen. Es scheint mir nicht einmal geholfen zu haben, darüber zu schreiben. Ihr könnt Euch wahrscheinlich nicht vorstellen, was da in mir aufkocht, wenn ich diese Bilder […]

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