Zeichnung einer Geige von Nicolo Amati um 1660
Den Kaffee tranken wir in Minskys Werkstatt. Er hatte sie in einem einstöckigen Nebengebäude eingerichtet, in dem es drei Zimmer gab. Im ersten, seinem Büro, waren die Wände bedeckt mit technischen Zeichnungen verschiedenster Teile von Violinen. An der Stirnwand des Zimmers, direkt über dem Schreibtisch, hing eine stark vergrößerte Zeichnung einer Amati von 1660, daneben die technische Zeichnung eines Corpus-Modells, das Minsky entworfen hatte.
Wie Minsky mir mit größter Begeisterung erzählte, reparierte er nicht nur Violinen und Bratschen, sondern stellte auch eigene Instrumente her. Geradezu besessen sei er von den Stücken der alten Italiener. Er sei Historiker, auch eine lange Geschichte, und per Zufall sei er bei der Suche nach Dokumenten auf einen Bericht gestoßen, den eine Gruppe von Geigenbauern in den 1920er Jahren in Berlin zusammengetragen hatte. Sie vertraten die Ansicht, dass die Corpus-Form der Amati-Violinen den Gesetzmäßigkeiten des Goldenen Schnittes folgte. Mit modernen Zentimeter-Maßen und Zirkeln ließ sich die Form exakt geometrisch zerlegen, so dass man auch für sogenannte halbe Instrumente, Violinen, Bratschen und Celli Pläne nach dem Amati-Vorbild konstruieren konnte. Die technische Zeichnung über dem Schreibtisch zeigte eine solche Konstruktion, zusammengesetzt aus Dreiecken und Zirkelbögen.
Er experimentiere noch, räumte Minsky ein, sei aber fest entschlossen, bald ein Patent anzumelden. Damit lotste er mich in den zweiten Raum der Werkstatt, in dem in Regalen Holz lagerte, halbfertige und fertige Einzelteile wie Decken, Böden, Stege und Griffbretter. In einem anderen Regal lagen Violinen in verschiedenen Phasen der Fertigstellung.
Eine seiner »neuen Amatis« habe er schon beinahe vollendet, raunte Minsky. Sie müsse lediglich noch »angezogen« werden, sagte er und zwinkerte mir dabei vergnügt zu.
Kommen Sie nur, lud er mich ein: Sie ist in meiner Alchemistenküche. Damit öffnete er die Tür zum dritten Zimmer, aus dem ein bläulich-violetter Schimmer drang. Ich folgte Minsky und trat ein.
Der Raum war angefüllt mit intensiven Gerüchen: Holz, Harze und Lösungsmittel. In diesem Raum experimentierte Minsky mit Lacken. Seit Jahrhunderten, erklärte er mir, würden Spirituslacke verwendet, in denen sich die verschiedenen Harze und Farbstoffe leicht lösen lassen und die schnell trocknen. Die Cremoneser wie Amati und Stradivari jedoch hätten ausschließlich Öllacke verwendet. Das sei nun gewissermaßen sein Hobby, berichtete Minsky. Er wolle nicht nur die Form nachbauen, sondern auch mit Lacken und Leimen arbeiten, die denen der alten Meister zumindest nahe kommen.
Der Klang, sagte Minsky mit einem geradezu heiligen Ernst, braucht ein stimmiges Ganzes aller Komponenten. Es braucht das passende, richtig abgelagerte Holz, die perfekte Form des Corpus, die richtige Leimung und den passenden Lack. Eine unlackierte, also gewissermaßen nackte Violine gäbe nie einen guten Klang. Es brauche die Dämpfung durch den Lack, und er sei überzeugt davon, mit den originalgetreuen Leimen und Öllacken dem Klangbild der echten Amatis am ehesten nahe zu kommen.
Dafür nahm er einiges auf sich. Es begann mit den Leimen, die er mit aus Quark gewonnenem Casein und Kalk ansetze. In dicker Konsistenz verwendete er das Gemisch als Leim, verdünnt als Grundierung für den Corpus, dessen Holz damit imprägniert werden musste, bevor er den Öllack auftragen konnte.
Die Herstellung der Lacke erinnerte tatsächlich an Alchemie. Er hatte lange nach den passenden Ausgangsölen gesucht, die ewig gekocht und mehrfach gesiebt werden mussten. Die Harze, die er verwendete – Mastix, Sanderath und Copal – wurden staubfein zermahlen, bevor er sie dem Öl beimischte. Dazu kam Krappwurz und Safran für die leicht rötliche Bernsteinfarbe, jedoch nur sehr wenig, denn Minsky applizierte die Lacke in bis zu fünfzehn hauchdünnen Schichten.
Das ist mein Kummer, meinte Minsky: In Italien trockneten die Anstriche im Sonnenlicht an frischer Luft. Ich habe nur einen UV-Schrank. Es ist wirklich Alchemie, ich habe es nachgelesen und mir von verschiedenen Chemikern bestätigen lassen: Das Öl nimmt unter UV-Einfluss den Sauerstoff auf, denken Sie nur, und härtet so aus. Ich habe immer die Vorstellung, dass mit dem Cremoner Licht damals auch die Stimmung der Gegend in den Lack eingegangen ist. Das kann man natürlich nicht kopieren…
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 19. September 2008 um 13:32 Uhr
Zimmer Nr. 3 ist ein schöner Höhepunkt dieses Auszugs:
Am 22. September 2008 um 13:42 Uhr
Schreib mal wieder was. Du hast doch sonst nichts zu tun, Herr Turmsegler! Bin schon auf Entzug!
:D
Am 22. September 2008 um 13:51 Uhr
Harr, harr, der war gut. Ist mir auch aufgefallen, dass hier schon eine größere Lücke klafft. Ich könnte ja mal über den Fortschritt der „Leinwand“ berichten…
Am 28. September 2008 um 19:15 Uhr
Wieso eigentlich nicht? Ist sicher auch sehr spannend. Hat es da überhaupt einen so großen Fortschritt gegeben?
Am 28. September 2008 um 19:36 Uhr
@paul: Ich glaube, Sie haben ein wenig den Anschluss verpasst.