Chometz-Verkauf

12. September 2008

Dachboden der Oberlausitzer Webschule
Dachboden der Oberlausitzer Webschule (der dem von Nathan Bollags Haus aber sehr ähnelt)

••• Eine Passage, die ich gleich wieder streichen wollte, obwohl sie mir gefällt. Ich bin im vorletzten Kapitel. Auf dem Dachboden wird Zichroni etwas finden… Aber darf man so kurz vor einem Finale so abschweifen? Keine Ahnung.

 

Über fünf Jahre habe ich nach Onkel Nathans Tod in seiner Wohnung gelebt, ohne nur das geringste zu verändern. Ich schlief nach wie vor in meinem Jugendzimmer. Alle Möbel blieben an ihrem Platz und Onkel Nathans Zimmer völlig unberührt. Die Putzfrau saugte und wischte Staub. Ich sah nicht einmal in die Schränke.

In Onkel Nathans Schaukelstuhl saß ich nie. Aber an den Tagen seiner Jahrzeit legte ich »La Gitana« auf, setzte mich wie am Abend seines Todes vor die Standuhr auf den Boden und las die Gedichte von Poe. Mir gefiel die Vorstellung, dass er so auf gewisse Weise doch noch anwesend blieb.

Zur Wohnung gehörte auch ein Abteil auf dem Dachboden, in dem mein Onkel einige Kisten mit Krimskrams, ein paar Möbelstücke und Lampen gelagert hatte, für die in der Wohnung kein Platz war, von denen er sich aber nicht trennen wollte. Auch in diesem Verschlag habe ich mich nie umgesehen. Lediglich zweimal im Jahr stieg ich hinauf, um vor Pessach eine Kiste mit angebrochenen Single-Malt-Flaschen dort zu verstauen und sie nach Pessach wieder herunterzuholen. Auch diese Flaschen hatten meinem Onkel gehört, der sich seiner kleinen Schwäche für Single Malts nie schämte. Ich nippte so selten an den teuren Whiskeys, dass ich sie vermutlich auch in zwanzig Jahren nicht leeren würde.

Weil diese Flaschen aber so teuer gewesen waren, hatte schon mein Onkel sie jedes Jahr über Pessach auf den Boden geschafft. Während des Festes durfte man sie nicht besitzen, und um sie nicht wegschütten oder verschenken zu müssen, wurden sie vorübergehend verkauft. Am Morgen von Erew Pessach erhielt der Rabbiner eine schriftliche Vollmacht, die ihn ermächtigte, das gesamten Dachbodenabteil mitsamt Inhalt an einen Nichtjuden zu verkaufen. Den Schlüssel verstauten wir irgendwo außer Sichtweite.

Natürlich verkaufte der Rabbiner nicht nur Onkel Nathans Single Malts, die Brotbretter und Schüsseln aus Holz, die wir nicht für Pessach kaschern konnten und deswegen auf dem Dachboden verstauten. Ganze Geschäfte, Lagerhallen und sogar Wertpapiere für Weizen-Optionen wechselten jedes Jahr vor dem Fest für einen symbolischen Fixbetrag den Besitzer. Am Tag nach Pessach, wenn man wieder Chometz besitzen durfte, kaufte der Rabbiner alles zurück, und man war automatisch wieder im Besitz all der Dinge, die man zuvor hatte loswerden müssen.

In den Jahren nach Onkel Nathans Tod beschlich mich immer, wenn ich vor Pessach die Kisten auf den Dachboden trug, die Vorstellung, dass in diesem Jahr beim Rückkauf des Chometz etwas schiefgehen würde. Der Verschlag unterm Dach und alles, was mein Onkel dort gelagert und ich nie angesehen hatte, würde nicht in meinen Besitz zurückkehren und mir so erspart bleiben, alles zu durchsuchen und zu sortieren, um es zu verkaufen, zu verschenken oder auch zu entsorgen. Das hätte mir, dachte ich, vielleicht die Kraft gegeben, endgültig Abschied zu nehmen, anstatt noch weitere Jahre die Wohnung mit einem unsichtbaren Bewohner zu teilen, der längst fortgegangen war.

Natürlich kam es nie dazu. Auch nach Onkel Nathans Tod und sicher bis heute verkündete der Rabbiner an jedem 23. Nissan nach dem Morgengebet: Das verkaufte Chometz wurde heute früh um fünf Uhr zurückgekauft. Im ersten Jahr, im zweiten, auch im fünften.

Ein Bekannter aus der Synagoge, der mich besuchte und entsetzt war, dass ich nichts in der Wohnung verändert hatte, überredete mich schließlich. Er besaß ein Antiquitätengeschäft und bot mir an, zwei Packer zu schicken, die mir beim Aussortieren und Entrümpeln zur Hand gehen würden, wenn ich ihm einen guten Preis machen würde für die Dinge, die sich verkaufen ließen und die ich nicht mehr brauchte. Ich willigte ein.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

Dachboden (Wikipedia)
Noch ein tolles Dachboden-Bild, bei dem ich allerdings eher an die Altneuschul und den Golem dachte

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