Schon während meines Studiums hatte ich begonnen, mich mit verschiedenen Varianten der Psychoanalyse zu beschäftigen. Bei den meisten Patienten, mit denen ich in der Klinik in Portland zu tun gehabt hatte, waren die Ursachen ihrer Störungen – ich nannte sie lieber Schwierigkeiten – in der Vergangenheit auszumachen, in ihren Erinnerungen, die sie mitunter unwissentlich mit mir geteilt hatten. Dass also eine Therapieform sich ganz darauf stützen sollte, in die Erinnerung zu tauchen und den Patienten an die Orte und durch die Geschehnisse seiner Vergangenheit zu führen, war einleuchtend.
Die Methoden überzeugten mich. Freuds Deutungen allerdings konnte ich nicht so viel abgewinnen. Seine Fokussierung auf das Sexuelle erschien mir obsessiv. Viel näher waren mir die Ansichten Jungs. Vor allem aber faszinierte mich die Technik des von Träumen ausgehenden freien Assoziierens, die ich als meditativ und gleichzeitig kreativ empfand.
Häufig waren den Patienten die Ereignisse, deren Zeuge ich in meinen Visionen wurde, gar nicht bewusst. Lediglich in ihren Träumen tauchten gelegentlich Splitter dieser Erinnerungen auf und meist in Verkleidungen, in denen sie kaum wieder zu erkennen waren. Es kam mir oft vor, als wären die Träume so etwas wie ein Versuch der Psyche, die Erinnerungen, die ins Unbewusste verbannt worden waren, umzuformen und mit neuen Bedeutungen zu füllen. Die Wege, die sie dabei beschritt, waren oft Umwege, wenn nicht gar Abwege.
Was mir besonders gefiel an der Psychoanalyse, war der Umstand, dass man als Therapeut völlig in den Hintergrund treten konnte und dem Patienten half, sich selbst zu helfen – sich zu erinnern und im Prozess des Erinnerns der Vergangenheit eine neue Bedeutung zu geben. Viele Patienten litten ja gerade unter dem Gefühl, dem Vergangenen und ihrer Situation hilflos ausgesetzt zu sein. In der Analyse konnten man ihnen die Zügel wieder in die Hand geben – oder vielmehr die Palette und den Pinsel, mit dem sie auf der Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente setzten.
Dabei konnte man selbst ganz zur Leinwand werden, zu einer Projektionsfläche, auf der die Patienten mögliche Gegenentwürfe skizzierten und neue Möglichkeiten erprobten, mit anderen Menschen überhaupt wieder in Beziehung zu treten. Dabei konnte man ebenso durch tausende möglicher Welten wandern wie beim Eintauchen in Bücher oder in Musik.
In der Psychoanalyse sah ich also nichts weniger als die natürliche Verbindung von Kunst und Heilung. Es ging nicht darum, etwas auszulöschen oder loszuwerden, sondern einzusammeln und wiederherzustellen, was zerbrochen war. Es war ein Tikkun, der die versprengten Funken eines verstörten Selbst aus den Träumen zusammensuchte, um ihnen ein neues Gefäß zu geben. Und damit stellte man ein Stück Schöpfung wieder her, das beschädigt, vielleicht sogar nahezu zerstört worden war.
Eine Weiterbildung zum Analytiker hatte ich lange für unmöglich gehalten. Sie war mit derart enormen Kosten verbunden, dass ich nicht einmal wagte, mit meinem Onkel über die bloße Möglichkeit einer solchen Ausbildung zu sprechen. Am teuersten war die Lehranalyse, der man sich selbst zu unterziehen hatte: bis zu 1.500 Analysestunden, die man selbst finanzieren musste. Woher hätte ich dieses Geld nehmen sollen?
Jetzt allerdings hatte ich die Mittel für eine solche Ausbildung. Und ich war in der Schweiz, was nicht der schlechteste Ort ist, um sich in Jungs analytischer Psychologie unterrichten zu lassen.
Natürlich brauchte eine solche Lehranalyse auch Zeit. Vier bis fünf Jahre musste man veranschlagen. Ich hatte bereits sechs Jahre in Praktika und Hörsälen verbracht. Die Aussicht, noch einmal so lange zu lernen und zu warten, stimmte mich nicht euphorisch.
aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)
Am 16. September 2008 um 20:48 Uhr
Das freie Assoziieren und durch Welten wandern ist die Grundlage allen Dichtens. Von einem Satz ausgehen, manchmal von einem Wort und Sätze bilden, frei von Werten und Vorstellungen, frei von jeglicher Ideologie, um tiefer einzudringen in das Mysterium des Wahrnehmens, des Bewusstseins, der Mythen, der Seele.
Nachtgrüsse vom Nachtdenker