Don Quijote – Gemälde aus dem Cultural Center, Tijuana
••• Literatur ist gefährlich. Cervantes hat die unsäglichen Auswirkungen insbesondere des Lesens von Ritterromanen im »Don Quijote« eiundrücklich beschrieben.
Was zu Zeiten von Cervantes die Ritterromane, sind heute wohl Filme. Seit letzter Woche und noch bis Mittwoch findet in München das 22. »Fantasy Filmfest« statt. Für unseren Babysitter bedeuten diese Filmfeste immer Überstunden. Ich schaffe es nie, mir so viele Streifen anzusehen wie die Herzdame. Aber in den letzten Tagen habe ich sie immerhin in zwei Double Features begleitet. Was es zu sehen gab, kann man bei Snowflakes & Blackvampires nachlesen.
Nach dem gestrigen Double Feature muss ich wohl wieder ein paar Tage mit der »Leinwand« aussetzen… Das gibt mir immerhin die Gelegenheit, Cervantes und seine Mahnung zu zitieren.
In Kürze erscheint nämlich bei Hanser eine Neuübersetzung des »Don Quijote« von Susanne Lange. Ein Auszug war demletzt im Akzente-Heft 4/2008 zu lesen. Ich habe meine Quijote-Ausgaben (Tieck) bereits entsorgt, abgesehen von einer wirklich zu schön illustrierten Großbuchausgabe, die man allein der Bilder wegen aufheben muss. Aber lesen muss man den Tieck nicht mehr. Mit der neuen Lange-Übersetzung dürfte die Lektüre zu einem unvergleichlich größeren Vergnügen werden.
An einem Ort in der Mancha, ich will mich nicht an den Namen erinnern, lebte vor nicht langer Zeit ein Edelmann, ein Hidalgo mit Lanze und Waffenhaken, alter Ledertasche, dürrem Gaul und flinkem Jagdhund. Mittags ein Eintopf mit mehr Rind als Hammel, am Abend meist saures Haschee, am Samstag fromme Eier mit Speck, Linsen am Freitag, am Sonntag als Dreingabe ein Täubchen, so waren drei Viertel seiner Einkünfte verzehrt. Das Übrige war dahingegangen für ein langes Wams aus dunklem Wolltuch, ein Beinkleid aus Samt für die Feiertage mit passenden Schlüpfschuhen dazu. An den Wochentagen gönnte er sich seinen besten Loden. Eine Haushälterin lebte bei ihm, die die vierzig überschritten, und eine Nichte, die die zwanzig noch nicht erreicht hatte, ebenso ein Knecht für alles, der mal den Gaul sattelte, mal zum Rebmesser griff. Unser Edelmann war an die fünfzig Jahre alt, von zähem Leib, hagerem Wuchs, hohlen Wangen, ein leidenschaftlicher Frühaufsteher und Liebhaber der Jagd. Manche behaupten, sein Name sei Quijada oder Quesada gewesen – die über den Fall schreiben, sind sich nicht einig –, obwohl man mit gutem Grund annehmen darf, dass er Quijana hieß. Für unseren Bericht jedoch ist das nicht von Belang: genug, dass die Geschichte keinen Strich von der Wahrheit abweicht.
Besagter Hidalgo widmete sich in den Mußestunden – die meisten im Jahr – dem Lesen von Ritterromanen, und dies mit solchem Eifer und Vergnügen, dass er darüber fast die Jagd, ja selbst die Verwaltung von Geld und Gut vergaß. Lesehunger und Verirrung gingen so weit, dass er viele Morgen Ackerland verkaufte, um sich Ritterbücher zu besorgen, und er schaffte alle in sein Haus, deren er habhaft werden konnte. Am besten gefielen ihm die des unvergleichlichen Feliciano de Silva, dessen klare Prosa und gewundene Ergründungen ihm wahre Juwelen zu sein schienen, vor allem die Galanterien und Fehdebriefe, wo er etwa geschrieben fand: »Der Grund der Unvernunft, auf die meine Vernunft sich gründet, hat gründlich mir die Vernunft getrübt, so dass ich mit vernünftigem Grund über Eure Schönheit klage.« Und wenn er las: »Die hohen Himmel oben, die so göttlich Eure Göttlichkeit mit ihren Sternen stärken und so verdienstlich das Verdienst anzeigen, das Euer Herrlichkeit verdient…«
Derlei Ergründungen bezwangen den Verstand des wackeren Mannes. Der Ärmste durchwachte Nächte, um sie zu begreifen und einen Sinn herauszufischen, den nicht einmal Aristoteles hätte hervorlocken und greifen können, wäre er auch eigens dazu von den Toten auferstanden. Nicht gefallen wollten ihm die Wunden, die Don Belianis austeilte und empfing, denn was für Wunderdoktoren ihn auch kuriert haben mochten, sein Gesicht und sein Leib mussten mit Narben und Wundmalen gepflastert sein. Dennoch lobte er den Verfasser dafür, dass er am Ausgang des Buches den Fortgang seines Abenteuers versprach, und oftmals überkam ihn der Wunsch, selbst zur Feder zu greifen und das Versprechen akkurat einzulösen. […]
Kurz, er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in den Büchern fand, mit Verzauberungen und Turnieren, mit Schlachten, Fehden, Blessuren, Liebesschwüren, Amouren, Herzensqualen und anderem abwegigen Unfug. All das nistete sich so fest in seinem Geist ein, dass ihm das Lügengebäude der phänomenalen Phantastereien, von denen er las, ganz unverrückbar wurde und es für ihn auf Erden keine wahrere Geschichte gab.
Miguel de Cervantes Saavedra, aus:
»Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha«
Neu übersetzt von Susanne Lange
© Hanser 2008-09-09
1.408 Seiten in zwei Bänden
Am 9. September 2008 um 11:48 Uhr
Am 11. September 2008 um 12:41 Uhr
[…] Eben finde ich zufällig ein Interview, das arte mit Susanne Langer anlässlich ihrer Neuübersetzung des »Don Quijote« führte. Mich würde einmal interessieren, wer von den Turmseglern das Opus ganz gelesen […]
Am 26. April 2019 um 07:37 Uhr
Empfohlen sei hier das ungekürzte Hörbuch zur Übersetzung von Susanne Lange. Die Spieldauer beträgt wenig mehr als 48 Stunden für beide Bände. Es wurde von Christian Brückner eingelesen und ist fantastisch, aber höret selbst…