Rote Raben

7. September 2008

Noch einmal wurde ich an Elis Gleichnis vom Kaufmann und dem Bettler erinnert. Nathan Bollag starb, nachdem ich als frisch zugelassener Arzt zu ihm nach Zürich zurückgekehrt war. Er ging, wie man es in unseren Kreisen umschreibt, durch einen Kuss des Ewigen: schnell, schmerzlos und friedlich.

Ich fand ihn im Wohnzimmer. Er saß in seinem Schaukelstuhl, die Füße hochgelegt auf einen Hocker und in eine Decke gewickelt. Aus den Lautsprechern klang Fritz Kreislers »La Gitana«, gespielt von Kreisler selbst, eine Live-Aufnahme, die mein Onkel sehr geliebt und oft gehört hatte. Auf seinem Schoß lagen offen die Gedichte von Poe. Er hatte »The Raven« gelesen: »And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming…« Die Augen meines Onkels waren geschlossen, als wäre er über den Versen nur eingenickt. Aber obwohl er noch warm war, spürte ich, als ich ihn berührte, sofort, dass er nicht einfach nur schlief.

Ich zog meine Handschuhe aus und griff nach seinen Händen, die plötzlich schwer geworden waren, als wären sie aus Stein. Ich fühlte keinen Puls; und selbst als ich die Augen schloss, sah ich nur in ein undurchdringliches Nichts, einen leeren Raum, in dem nur noch das Echo von Kreislers Zigeunertanz umging. Er mochte noch hier sein, in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, und mich beobachten; aber seinen Körper hatte er verlassen.

Ich legte das Buch beiseite und stellte die Musik ab. Dann öffnete ich die Glastür der Standuhr und hielt das Pendel an. Nun war es völlig still.

Ich musste den Notarzt anrufen, obwohl ich wusste, dass es zu spät war. Aber wie sollte ich sprechen? Mir war zum Schreien zumute, aber auch das wollte mir nicht gelingen. Ich kniete mich neben den Schaukelstuhl und hielt noch einmal für einen Augenblick Onkel Nathans Hand.

Das Dunkel und die völlige Stille, aus der heraus nicht das kleinste Zeichen mehr von ihm zu mir drang, machten mich wütend. Ich stand auf, und mit einem einzigen Ruck riss ich das Revers meines Jacketts und den Kragen meines Hemdes ein. Dann zog ich die Schuhe aus und ging zum Telefon.

Während ich telefonierte, den Blick fortwährend auf den Körper meines Onkels geheftet, hörte ich mir selbst zu wie einem anderen. Meine Stimme klang ruhig. Ich gab die Adresse durch und informierte den Notdienst – von Arzt zu Arzt – dass es nicht mehr eilte. Dann legte ich auf, ging ins Schlafzimmer meines Onkels und holte aus der großen Truhe unter dem Fenster weiße Laken, um die Spiegel im Haus zu verhängen.

Als der Notarzt eintraf und mich fragte, ob ich ein Verwandter sei, nickte ich und sage: Ich bin der Sohn. Während er Nathan Bollag untersuchte und die Papiere ausfüllte, saß ich reglos vor der offenen Standuhr am Boden und hielt mich an Poes Gedichtband fest. Der Arzt und die Helfer kamen mir wie Raben in roten Westen vor, die hier eingedrungen waren, um meinen Onkel zu holen. Aber sie bekamen ihn nicht. Es fühlte sich an, als säße er neben mir und beobachte ihr Treiben gemeinsam mit mir, aber ruhig und ohne eine Spur von Zorn.

Auch als die Polizei kam, die vom Notarzt gerufen worden war, blieb ich sitzen. Die Beamtem berieten sich kurz mit dem Arzt. Mich fragten sie nur, ob ich etwas verändert hätte. Ich hob das Buch, das auf Onkel Nathans Schoß gelegen hatte.

Und wann haben Sie ihn gefunden?

Ich zeigte nach oben, auf das Zifferblatt der Standuhr, die ich angehalten hatte.

Der Beamte, der mich befragt hatte, nickte. Dann verschwanden die Polizisten.

Ob ich Hilfe brauche, fragte einer der roten Vögel.

Ich schüttelte den Kopf. Der Fahrer des Notarztteams war jüdisch. Sie müssen im Rabbinat anrufen, sagte er. Sie würden die Chevra Kadisha verständigen, die sich um alles kümmert. Er beugte sich zu mir herab und sagte: Mögest du getröstet sein unter den Trauernden von Zion und Yerushalayim.

Ich nickte und wollte aufstehen, um den sprechenden Raben zur Tür zu bringen. Aber der schlug mit den Flügeln, und alle verschwanden. Die Tür fiel ins Schloss, und ich saß sicher noch eine Stunde reglos neben meinem Onkel, bevor ich in der Gemeinde anrief.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)


PS: Ein Zufallsfund. Videoaufnahmen von der Trauerfeier 1994 für Rav Shlomo Carlebach, einen der größten Rabbonim des letzten Jahrhunderts.

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