Psychiatrie

20. August 2008

Die Behandlung durch meinen Professor und die Geschichte seiner Erfahrung mit dem alten Mandschu in Chinatown änderte meine Einstellung zum Medizin-Studium grundlegend. Ich wollte noch immer die Ausbildung beenden und Arzt werden. Ein Schulmediziner allerdings, sagte ich mir, würde nicht aus mir werden.

Nach dem Physikum wählte ich vor allem Vorlesungen, die sich mit Themen aus der Neurologie, Psychologie und Psychiatrie befassten. In einer Disziplin, in der selbst meine Professoren zugaben, dass die Wissenschaft die komplexe Struktur und Funktionsweise ihres Forschungsgegenstands, der Psyche, noch immer nur ungenügend durchschaute, fühlte ich mich wohler als in der – wie es mir vorkam – reinen Biomechanik.

Die Verunsicherungen, denen ich ausgesetzt war, wurden durch die Spezialisierung aber nicht geringer. Gerade vor dem Hintergrund des Eingeständnisses eines bestenfalls soliden Halbwissens überraschten mich der Lehrplan und der tatsächliche Stand der Therapieforschung. In manchen Lehrveranstaltungen zur psychiatrischen Behandlungspraxis kam man sich eher vor wie in einem Chemie-Seminar als in einem, das sich mit der Heilung der menschlichen Seele befasste – und anders konnte ich den Begriff der Psyche nie verstehen.

Hatte Prof. Eichner schon die Gabe blutdrucksenkender Mittel als bedenklich bezeichnet, mussten die Psychiater in der klinischen Praxis geradezu als Giftmischer gelten. Die Krankheitsbilder waren wenig differenziert. Neben Schizophrenen und Manisch-Depressiven schien es kaum etwas zu geben. Die Medikamente stellten ruhig oder hellten auf. Sie machten die Patienten handhabbar. Dass sie die Heilung einer verletzten Seele befördern sollten, konnte ich mir nicht vorstellen. Einige der gängigen Behandlungsmethoden, denen die Patienten ausgesetzt wurden – von Fixierung und Eisbädern über Elektroschocks bis zur Lobotomie – kamen mir eher wie mittelalterliche Foltermethoden vor denn als Therapien, die an der Gesundheit des Patienten interessiert waren.

Ich hatte den Biomechanikern ausweichen wollen und mir dabei ein Thema gewählt, in dem sich ihre Ansichten besonders drastisch niederschlugen.

Die Maschine Mensch musste funktionieren. War sie gestört, wurde grobes Werkzeug bemüht, damit sie wenigstens keinen Schaden anrichten konnte oder – besser noch – sich als Hilfsmaschine mit eingeschränkter Leistung wieder in die gesellschaftlichen Prozesse integrieren ließ. Menschen, die in anderen Kulturen als Heilige mit dem Zweiten Gesicht verehrt worden wären, wurden in den Kliniken weggesperrt und chemisch ruhig gestellt, damit sie nur ja nicht auffielen.

Das Menschenbild dieser medizinischen Disziplin war mir völlig fremd. Wie könnte auch jemand, der wie ich den Menschen als in Gottes Ebenbild geschaffen betrachtet, jemals auch nur erwägen, einem Patienten chirurgisch ganze Hirnareale zu entfernen und so zu einem nahezu willenlosen Geschöpf zu machen? In Berichten aus dem Dritten Reich hätten solche Methoden nicht erstaunt. In medizinischen Studien amerikanischer und europäischer Ärzte, denen ganze Kliniken anvertraut waren, überraschten und entsetzten sie mich.

Dennoch wurde das Fach an einer religiösen Universität unterrichtet. Das war in meinen Augen ein mindestens ebenso großes Paradoxon wie das, dem sich Elisha ben Avuya einst gegenübergesehen haben sollte.

Der Weg zur Psychoanalyse aber, den ich einschlagen wollte, führte damals ausschließlich über eine psychiatrische Ausbildung. Mir blieb nichts anderes übrig, als die gesamte Topographie dieser Hölle zu studieren, wenn ich ihr irgendwann einmal in die Psychoanalyse entkommen wollte.

Nicht selten fragte ich mich damals, ob ich nicht selbst in Gefahr war, einmal als Patient in diesem medizinischen Gehinnom zu landen. Würde ich mich je einem Psychiater anvertrauen, wären meine Visionen schnell dem Krankheitsbild eines Schizophrenen zugeordnet. Die Medikation stünde im Handumdrehen fest und die Prognose voraussichtlicher Unheilbarkeit gleich dazu.

In solchen Momenten fühlte ich mich zurückversetzt auf jene grüne Bank am sommerlichen Zürcher Mythenquai, auf der ich Jahre zuvor an nur einem Tag Bulgakows »Meister und Margarita« gelesen hatte. Das Unwägbare, der exakten Naturwissenschaft Entzogene, das mir in meinen Visionen begegnet war, und das Bild des mechanischen Menschen, der mit Substanzen und Ideologie die eigenen und die Geschicke der Welt zu lenken meint, saßen in Gestalt des Ausländers Volant und von Berlioz und Besdomny neben mir. Ich wusste, dass Annuschka das Sonnenblumenöl bereits verschüttet hatte. Und es brachte mich tatsächlich beinahe um den Verstand, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie man Berlioz davor bewahren sollte, seinen Kopf zu verlieren, wenn er sich doch beharrlich weigerte, wenigstens anzunehmen, dass etwas anderes im Leben der Menschen Regie führte – nämlich die mitunter grauenhaft poetische Hand des Ewigen.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

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