In Chinatown

19. August 2008

Acupuncture Chart (Wikipedia)

Fünfzehn Jahre zuvor hatte Prof. Eichner in einer Zeit großer persönlicher Schwierigkeiten einen Hörsturz erlitten und, als wäre das nicht schlimm genug gewesen, auch noch seinen Kopf kaum mehr bewegen können. Er war damals noch Forschungsarzt am New Yorker Mount Sinai Hospital gewesen, ständig beschäftigt, übernächtigt und gestresst.

Natürlich hatte er sich umgehend ausgiebig untersuchen lassen. Aber mehrere Kollegen in verschiedenen Kliniken der Stadt hatten vor allem nicht herausfinden können, was die Beweglichkeit seiner Halswirbelsäule eingeschränkt haben könnte. Auch die Ursache des Hörsturzes blieb im Dunkeln. Man verordnete ihm Infusionen und ein paar Tage Ruhe.

Nach den Ruhetagen hörte der Professor jedoch auf dem rechten Ohr noch immer fast nichts und bewegte sich nach wie vor, als wäre ihm eine Halsmanschette angelegt worden. Als sich auch vierzehn weitere Tage später keine Besserung einstellte, steckte sein Arzt ihm nach der Untersuchung eine Visitenkarte zu und flüsterte: Halten Sie es für Hokuspokus oder was auch immer Sie wollen, aber meine Frau schwört auf diesen Mann. Gehen Sie hin, schaden kann es nicht. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht anders helfen.

Der Mann, auf den die Frau des Kollegen schwor, war ein mindestens neunzig Jahre alter Mandschu in Chinatown. Sein Behandlungszimmer war eine fensterlose Abstellkammer hinter dem Obst- und Gemüsemarkt in der Elisabeth Street, auf halbem Weg zwischen Canal und Hester.

Die Visitenkarte war schlicht. Drei Schriftzeichen, die einen Namen bedeuten mochten, der Name des Geschäfts und die Straße sowie der Hinweis »show card at counter« fanden sich darauf.

Prof. Eichner war außerordentlich skeptisch, aber selbst eine unsichere Aussicht auf Linderung seiner Symptome war es ihm wert, einen Ausflug nach Chinatown zu unternehmen.

Er zeigte die Karte an der Kasse vor, wurde nach hinten gewunken und gebeten, einen Moment allein in der Abstellkammer zu warten. Der Arzt würde gleich kommen.

Tatsächlich vergingen fast zwanzig Minuten, in denen der Professor mehrmals versucht war, wieder zu gehen, bis der alte Mandschu auftauchte und sich anhörte, was ihn plagte. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, während er sich die vagen Theorien anhörte, die der Professor sich zurechtgelegt hatte. Er bat ihn, den Oberkörper frei zu machen und sich auf dem Bauch auf die Liege zu legen. Der Alte tastete zunächst seine Wirbelsäule ab. Dann ließ er ihn sich hinsetzen, schaltete eine helle Lampe an und trat dicht an den Professor heran. Er presste seine Zeigefinger auf dessen Brauen und zog mit den Daumen die Unterlider herab, so dass er in die weit offenen Augen des Professors sehen konnte. Nach wenigen Sekunden ließ er die Hände sinken und trat zurück.

Sie müssen, sagte der Mandschu leise, aber entschieden: die Richtung ihres Blickes ändern. Der Kopf folgt nur langsam nach, aber er folgt.

Dem Professor war dies zunächst vorgekommen wie ein Orakelspruch aus einem fortune cookie. Obgleich er, wie er meinte, sehr entgeistert geschaut haben musste, bekam er keine weitere Erklärung außer der knappen Anweisung: Fifty.

Wie ferngesteuert holte Eichner die fünf Scheine aus seiner Brieftasche und legte sie in die ihm entgegen gestreckte Hand. Der Alte nahm das Geld und bedeutete seinem Patienten, sich nochmals auf den Bauch zu legen. Mit wenigen Handgriffen löste er die Blockade in der Halswirbelsäule, verabschiedete sich und verließ das winzige Behandlungszimmer, bevor sich der Professor noch wieder hatte anziehen können.

aus: „Die Leinwand“ (Amnon Zichroni)
© Benjamin Stein (2008)

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