••• Zweiundzwanzig Kapitel wird „Die Leinwand“ haben. Das ist eine Reminiszenz an das „Alphabet“ und die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, die darin eine wesentliche Rolle spielen. Aus ihnen hat der Ewige die Welt erschaffen. Aus ihnen schaffen auch Literaten Welten, wenn auch kleinere.
Inzwischen ist der Zichroni-Strang mit seinen 11 Kapiteln bis zum Ende durchgeplant. Der Plot steht und wie sich alles auf die verbleibenden 6 Zichroni-Kapitel verteilen wird. Es werden 210 Seiten werden in diesem Strang.
Bei Wechsler bin ich noch nicht ganz schlüssig, welche der möglichen Themen ich aufnehmen sollte oder besser außen vor lasse. Aber das ist auch gut so. Schließlich muss auch für mich noch ein wenig Raum für Überraschungen bleiben…
In jener Zeit lernte ich meine Frau kennen. Sie hielt mich zunächst für schwul – ein Missverständnis, das sich bald aufklärte. Ohne dieses Missverständnis allerdings wäre sie wahrscheinlich nie mit mir ausgegangen. Ich kam, als wir uns das erste Mal trafen, weder als Ehemann noch als Affäre für sie in Frage. Und während ich sehr bald das Gefühl gehabt hatte, dass ich sie eines Tages heiraten würde, verliebte sie sich eher entgegen aller ursprünglichen Annahmen und Wahrscheinlichkeiten in mich.
Immerhin konnte ich mich erklären. Mein Nachholbedürfnis in materiellen Belangen war glaubhaft vor dem Hintergrund meiner Erzählungen vom Osten. Und vielleicht stiftete das Erzählen und mein uneingeschränktes Eingeständnis meiner Bedürftigkeit genügend Sympathie, um meine Unvernunft und den ungewöhnlichen Lebensstil vergessen zu machen.
Ich wollte aber in dieser Phase des Kennenlernens den Bogen auch nicht überspannen. Es wäre mir unangenehm gewesen, sofort einzuräumen, dass ich das Geld, mit dem ich mir meine Extravaganzen ermöglichte, nicht etwa ehrlich und hart erarbeitet hatte, sondern lediglich einem glücklichen Lotterie-Tipp verdankte.
Leider verpasste ich auch in den folgenden Jahren die Gelegenheit, die Herkunft meiner Mittel zu erklären.
Ich war vielleicht zu sehr mit meinen literarischen Ambitionen, meiner Garderobe und dem Verliebtsein in meine Frau beschäftigt gewesen; oder ich war einfach zu naiv und sorglos in allen Gelddingen. Jedenfalls hatte ich ganz übersehen, dass ich die Gewinne aus den Schiffsbeteilungen selbstverständlich hätte versteuern müssen.
Ein solches Versäumnis geht auf lange Sicht ohnehin selten durch, bei einem Bürger jedoch, dem das Lotto-Glück hold gewesen war, interessiert sich das Finanzamt ganz besonders und schon nach kurzer Frist dafür, was denn aus dem Gewinn und eventuellen Investitionen geworden ist. Steht man dann ohne Belege da, bekommt man prompt die Rechnung und zahlt nicht nur, was man tatsächlich schuldig gewesen wäre, sondern einen sehr großzügig zugunsten des Staates geschätzten Betrag – zuzüglich Zinsen, Strafen und Gebühren.
Steuerbescheid und Strafbefehl wurden mir zugestellt, als unsere Tochter gerade ein Jahr alt war und meine Frau hochschwanger mit dem zweiten Kind. Die Höhe der Summe bescherte mir ein weiteres Mal in meinen Leben so etwas wie eine mystische Erfahrung, denn ich hatte in jenem Moment das bestimmte Gefühl, der Ewige hätte mir ohne Vorwarnung und unmissverständlich die Instrumente gezeigt, die ihm zur Verfügung standen, um mir im Handumdrehen alles zu nehmen, was ich besaß. Reichtum und Ehre kommen von Gott? Aber ja, er trieb nur eben die Gebühren für seine Bemühungen ein.
Es war mein Glück, dass meine Frau überhaupt nicht an materiellem Wohlstand hängt. Kein Auto mehr? Kein Problem. Umziehen in eine winzige Wohnung? Es wird schon gehen. Jeden Euro zweimal umdrehen und improvisieren? Was soll’s! Welche Frau hätte das schon gesagt in dieser Situation? Meine schon; und dafür liebte ich sie, und es beschämte mich.
Mir fiel der Abschied vom Wohlstand schwerer. Der größte Teil meiner Uhrensammlung, die ich mir in der ersten Phase meiner Begeisterung für die mechanische Zeitmessung zugelegt hatte, musste ich mit horrenden Verlusten verkaufen. Überhaupt war nicht einmal der Abschied vom guten Leben umsonst. Der Umzug, die Renovierung der alten Wohnung und die vorzeitige Kündigung meines Leasingvertrages für das Coupé – all das wollte bezahlt sein. Die Schiffsbeteiligungen brachten, nach Courtagen und Sondergebühren für die vorzeitige Vertragsauflösung, nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Einlage. Und dieser Erlös wanderte auch noch direkt ins Säckel des Gerichtsvollziehers.
Ich klagte nicht. Ebenso, wie ich zuvor gemeint hatte, ein legitimes Nachholanrecht zu haben, glaubte ich nun, dass ich ehrlich verdiente, was geschah. Es hatte so kommen müssen. Es war so gekommen. Ich musste es hinnehmen und durchstehen.
Meiner Frau gegenüber allerdings konnte ich auch in diesem Moment die Herkunft des früheren Wohlstands nicht erklären. Hatte ich zuvor schon Skrupel gehabt, mich als Vernichter geschenkten Geldes zu outen, war es mir jetzt, da wir alle unter meiner enormen Sorglosigkeit zu leiden hatten, erst recht unmöglich, zuzugeben, dass ich nicht einmal Steuern bezahlt hatte aus dem Goldtopf, der mir gewissermaßen in den Schoß gefallen war.
Es war mir einfach zu peinlich. Also redete ich wenig und erklärte mich nicht. Es war überhaupt eine Zeit weniger Worte.
Natürlich musste ich sofort etwas unternehmen. Keine Bank hätte mir Kredit gegeben, denn ich besaß nichts mehr von Wert und hätte für ein etwaiges Darlehen keinerlei Sicherheiten bieten können. Das Finanzamt stundete keinen Cent. Aller paar Wochen kam der Gerichtsvollzieher. Das einzig Pfändbare von Wert waren zwei meiner mechanischen Uhren, die ich – als eiserne Reserve – behalten und sicher untergebracht hatte.
Immerhin hatte ich einen Plan. Meine Anzüge und Schuhe, die Hemden und Krawatten, die ja nun wirklich nicht zu verkaufen waren, leisteten doch noch einen wirklichen Dienst, denn ich beschloss, mich auf die Beratung von Unternehmen zu verlegen. Ein Freund – es gab sie noch – der damit seinen Ruf aufs Spiel setzte, öffnete mir die Türen. Und wieder hatte ich Glück. Vielleicht vertraute man mehr meiner tadellosen Kleidung als meinem Resumé, das mich ja nicht unbedingt als qualifiziert für ein Coaching des höheren Managements großer Unternehmen auswies. Genau dies aber bot ich an.
Während ich abends zu Hause kaum ein Wort über die Lippen brachte, das unser momentanes Finanzdebakel wirklich aufgeklärt hätte, half ich tagsüber gewieften Manager-Haudegen, Konfliktsituationen zu erkennen, zu benennen und zu lösen. Häufig ging es um den bewussten Umgang mit Angst – vor der eigenen Courage, vor einem Scheitern. Ich half diesen Männern, ihren Visionen zu vertrauen, und vor allem, sie auszudrücken und andere dafür zu begeistern.
Die Tagessätze, die ich damit erzielen konnte, waren enorm. Dennoch dauerte es Jahre, bis die Schulden bei den Finanzbehörden abgetragen waren. Erst vorletzten Sommer sind wir zum ersten Mal wieder in den Urlaub gefahren.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)