Luxus

1. August 2008

Lottoschein••• In der letzten Woche bin ich enorm vorangekommen mit dem Wechsler-Strang der „Leinwand“. Dass sich alles wie von selbst ergibt und ohne Stocken Kapitel auf Kapitel folgt, verdanke ich wohl auch einem ungeheuren Luxus: Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Lektor. Und nicht nur das. Er liest auch gewissermaßen live mit. Die Kapitel gehen an ihn, sobald sie meines Erachtens fertig sind.

Nicht immer sind sie es tatsächlich. Das vierte Wechsler-Kapitel, aus dem ich hier vor zwei Tagen zitiert habe, kam postwendend zurück – mit der Bitte, doch wenigstens ein Drittel zu streichen. Slapstick, Marotten, Geplauder, lauter Sünden des „Alphabets“, die ich doch unbedingt vermeiden wollte bei diesem Roman und vermeiden muss.

Aber 7 aus 22 Seiten streichen? Ja, wo denn? Unmöglich!

Es war möglich. Tatsächlich sind am Ende nur insgesamt 4 Seiten gestrichen worden. Nicht immer waren es zusammenhängende Passagen, immer wieder auch Teilsätze und einzelne Worte. Das vermeintliche „Opfer“ hat sich gelohnt. Aus einem trägen, entgleisten Kapitel ist ein starkes geworden.

 

Lottogewinne sind nicht steuerfrei. Was nach einer Frist von zwei Jahren nicht ausgegeben oder steuerabzugsfähig investiert ist, wird für diverse staatliche Abgaben fällig.

Ich behielt, was ich für zwei Jahre ungestörten Lebens brauchte und investierte den Rest in vermeintlich risikoarme Schiffsbeteiligungen sowie in Anteile an einem Internet-Startup. Die Dot-Com-Rallye nahm zu jenem Zeitpunkt gerade richtig Fahrt auf, und Investitionen wie diese versprachen horrende Renditen.

Nicht bei allen diesen Investitionen hatte ich eine glückliche Hand. Bevor die Sperrfrist abgelaufen war, während derer Gründer und Initialinvestoren ihre Anteile nicht losschlagen dürfen, war die Internet-Firma pleite, meine Einlage verbrannt.

Die Schiffsbeteiligungen hingegen warfen über mehr als zwei Jahre gute Gewinne ab, leicht verdientes Geld, das ich mit vollen Händen ausgab.

Ich fand Gefallen an Maßanzügen und rahmengenähten englischen Schuhen aus Boxcalf oder Pferdeleder. Man lief in diesen Schuhen wie auf Wolken, benötigte jedoch für jeden Wochentag und besondere Gelegenheiten mindestens je ein Paar.

Mehrmals wechselte ich in dieser Zeit die Farbe von Haar und Augenbrauen bei einem der angesagtesten Münchner Coiffeure, dessen Salon sehr diskret im ersten Stock eines Großbürgerhauses in der Münchner Innenstadt untergebracht war. Man parkte während der Besuche bei ihm umsonst auf reservierten Plätzen in der Tiefgarage der Oper.

Dass ich anfällig war für diese Art Luxus, entschuldigte ich mit meiner Herkunft aus dem kleinen Land und der Tatsache, dass ich am gleichen Tag Geburtstag feierte wie einst Thomas Mann und Alexander Puschkin. Aus mir hätte, astrologisch betrachtet, ein Großbürger werden müssen. Stattdessen war ich aufgewachsen in eher einfachen Verhältnissen am Stadtrand von Ost-Berlin.

Meine ganze Kindheit und Jugend über habe ich hässliche oder aber von den Cousins dritten Grades in Westdeutschland abgelegte Sachen getragen, die uns gelegentlich per Paket erreichten: abgeschabte Cordhosen, ausgewaschene T-Shirts und dünn gewordene Oberhemden, allesamt außer Mode, denen meine Mutter wenigstens einen Touch von Stil verpasste, indem sie die Kragen halb abschnitt und zu Stehkragen umnähte.

Nach individueller, wenn auch nicht unbedingt schöner Kleidung musste man im Osten zum Teil lange suchen. Meine Schuhe – unverwüstlich für den kräftigen, eines Majakowski würdigen Schritt – kaufte ich im Geschäft für Arbeitsbekleidung. Sie kosteten fast nichts, aber man konnte größere Lasten auf ihnen niedergehen lassen, ohne dass sie die Form verloren oder den Fuß des Trägers verletzt hätten. Meine Mäntel erstand ich in einem Spezialgeschäft für Trauerbedarf. Wenn man auch annehmen möchte, dass solche Mäntel von keinem Käufer häufig getragen werden, waren sie doch ebenso robust wie meine Schuhe und überdauerten, selbst wenn man sie, wie ich, täglich trug, mehrere Jahre.

All dies in Rechnung stellend, fühlte ich mich also in meiner Unvernunft gewissermaßen schuldbefreit. Ich hatte, glaubte ich, ein Anrecht darauf, einiges nachzuholen.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

Eine Reaktion zu “Luxus”

  1. Die Rechnung wird präsentiert « Turmsegler

    […] jener Zeit lernte ich meine Frau kennen. Sie hielt mich zunächst für schwul – ein […]

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