••• Warum bis Sonntag warten? Ich habe das nächste Wechsler-Kapitel heute schon eingelesen. Zu Schöpferischem hat es eh nicht mehr gereicht, und morgen ist schon wieder Freitag. Vielleicht komme ich am Schabbes zu mir und am Sonntag – wieder frisch – weiter.
Der Titel ist eine „code message“. Ob sie wohl ankommt?
Bei unserem Umzug vor einigen Jahren ist mir, als ich nun endlich alle Bücher auspacken und einsortieren konnte, wieder und bitter endgültig bewusst geworden: Die meisten Bücher, von denen ich mir eingebildet hatte, sie besessen zu haben, waren in Wirklichkeit nie in meinem Besitz. Ich hatte sie geliehen, von Freunden und aus Bibliotheken. Ich hatte sie schon lange nicht mehr bei mir, nur noch in meinem Kopf, in dem Erinnerung alles umschreibt, entstellt bis zur Unkenntlichkeit.
Wenn ich nun aber an all die geschilderten Lektüre-Episoden denke, an die Geschichten, Menschen und Orte, die mit all den Büchern verbunden sind und an die ich mich deutlich erinnere; wenn ich das alles bedenke – wer könnte mir verübeln, dass die Erinnerungen in meinem Kopf Kapriolen schlagen, wenn ich im Regal meiner Frau genau diese, diese, diese gewisse Ausgabe der Lenclos-Briefe, der gesammelten cummings-Gedichte oder eine in Leinen (mit Lesebändchen!) gebundenen Orwell-Ausgabe von »1984« entdecke? Würde ich erzählen, dass ich den von meiner Mutter erschnorrten Lenclos-Band selbstverständlich nie verliehen habe und er mir also auch nie verloren ging… Würde ich berichten, dass jenes Orwell-Buch, das ich, gut getarnt, auf dem Schulhof gelesen hatte, kein Paperback, sondern eine erstklassige Leinenausgabe gewesen war und meine Jugendliebe es mir geschenkt hatte, weil sein Besitz mich so glücklich machte… Wenn ich erzählte, dass die Bibliothekarin in der amerikanischen Botschaft, zutiefst beeindruckt von meiner jede staatliche Gefahr verachtenden Liebe für cummings’ Lyrik, mir dessen »Complete Poems« nicht vorenthalten, sondern sehr wohl ausgeliehen hatte, wohl wissend, dass ich sie nie zurückbringen könnte… Wer bitte, würde nicht glauben, dass es so und nur so gewesen ist und das fragliche Buch mir gehören muss, so selbstverständlich, als wäre ich bereits mit ihm in der Hand auf die Welt gekommen?
Niemand, sage ich.
Ausgenommen natürlich meine Frau. Sie kennt mich. Und – sie hat Belege. Wenn ich ihr mit wahrhaftigsten Erinnerungen komme, die meinen Besitzanspruch jedem anderen gegenüber zweifelsfrei bestätigen würden, dann lächelt sie nur, öffnet das Buch, faltet den Kaufbeleg auseinander und zeigt ihn mir. Und angesichts eines solchen Beweises bleibt dann von meinen Erinnerungen nicht viel mehr als ein literarischer Irrtum.
Was ich fühle in diesen Momenten, muss dem Empfinden sehr nahe kommen, das Antonio erfüllte in dem Augenblick, als Shylock das Messer ansetzte. Wäre es nicht meine Frau, und wäre die Liebe nicht, mit der sie das Loch des alten Mangels in mir ausfüllt – ich könnte es nicht ertragen.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Die Leinwand: Jan Wechsler (2)
© Benjamin Stein (2008)
Dauer: 26:52