Meiner Frau erzähle ich vorerst noch nichts von meinem Fund. Wenn es auch im Moment nicht den Anschein haben mag, dass große Hoffnungen berechtigt wären, denke ich doch, ich werde schnell plausible Erklärungen finden, was den Koffer und die Gegenstände betrifft, die sich in ihm befanden. Bis dahin genügt es, wenn ich selbst beunruhigt bin. Ich muss damit jetzt niemanden anstecken.
Die Dorian-Gray-Ausgabe von Penguin Modern Classics, die mir sofort in den Sinn gekommen war, als ich den Koffer inspizierte und auf das Wilde-Buch stieß, diese Ausgabe habe ich jedenfalls gefunden. Allerdings stand sie nicht bei meinen Büchern, sondern in einem der Regale meiner Frau. Sie hat die Eigenart, die Kaufbelege, seien es nun Kassenzettel, Rechnungen des Online-Versands oder Lieferscheine von Antiquariaten, zusammen mit den Büchern aufzuheben. Sie meint, das sei eine schöne Sache, sollte sie ein Buch einmal verkaufen. Es dokumentiere für den Neubesitzer quasi ein Stück Wegs, den das Buch bislang genommen hat.
Ich verstand das erst, als sie einmal auf einem Flohmarkt auf dem Vorsatzblatt eines dort angebotenen Buches eine handgeschriebene Widmung entdeckte: »Meine süße Karin! Da ich Dich so liebe, ist dieser Gedichtband ein Zeichen, mit Worten das Schönste auszudrücken, das uns am Leben hält… Deine Martina (Feb. 1984)«
Manche Bücher erzählen Geschichten, von denen der Autor nichts ahnte. Dieses Buch war wohl haltbarer als die Liebe, als deren Beweis es einmal verschenkt worden war. Oder haltbarer als das Leben; wer kann das schon wissen? So eine Widmung und die Umstände, unter denen meine Frau das Buch fand, lassen viel Spielraum für Assoziationen und mögliche Geschichten.
Da hat jemand sein Herz vertrödelt, sagte sie und sortierte das Buch nicht alphabetisch ins Regal, wie sie es sonst hält, sondern stellte es zu den besonderen Schätzen, jenen Büchern, die man unter keinen Umständen verleiht.
Kaufbelege oder Lieferscheine wären, sagte sie, ebenso eine persönliche Note, durch den für einen eventuellen Nachbesitzer eines solchen Buches ein zusätzlicher Raum eröffnet würde, in dem sich die Phantasie entfalten kann. (Dieser Meinung war sie zuvor schon gewesen. Die entdeckte Widmung von Martina an Karin in Liebe bestätigte sie lediglich in diesem Empfinden.)
Ganz abgesehen davon konnte sie dank dieser Belege auch nach Jahren noch feststellen, wann und wo sie ein bestimmtes Buch erstanden hatte. Und das war, seit wir zusammen wohnen, gewissermaßen eine Versicherung gegen die ständige Gefahr, von mir ausgeplündert zu werden. Immer wieder kam es vor, dass ich Stein und Bein schwor, ein bestimmtes Buch in ihrem Regal gehöre doch mir. Das kostete sie nur ein müdes Lächeln. Ich erinnerte mich zwar, dass und wo und wann ich es gekauft hatte. Aber sie, sie konnte es beweisen und bewies damit mir wieder und wieder, dass meinen Erinnerungen nicht zu trauen war.
Dass ich heute bei der Sichtung einiger Gegenstände unbekannter Herkunft aus einem irrtümlich an mich zugestellten Koffer mit leichten Gedächtnisverschiebungen konfrontiert bin, ist also gar nicht so überraschend. Neu ist eher, dass ich mich an etwas ganz und gar nicht zu erinnern vermag. Für gewöhnlich nämlich erinnere ich mich durchaus und sehr genau; nur hat, was ich häufig detailreich aus dem Gedächtnis schildere, mitunter nie stattgefunden. Und diese Erkenntnis verdanke ich den sorgsam jeweils mit den Büchern meiner Frau aufbewahrten Kaufbelegen und natürlich ihrer Hartnäckigkeit: Sie beweist es mir gern, wenn ich Unrecht habe.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)