Nicolás Gómez Dávila (1913-1994)
In den Literaturgeschichten sind es nicht die ersten Kapitel, die mit den Jahren schrumpfen, sondern die letzten.
Die großen Werke brauchen Jahre, um aus dem literarischen Leichenhaufen aufzutauchen, der sie erstickt.
••• Aphorismen – so dachte ich bisher – sind so etwas wie Abfallprodukte der literarischen Arbeit. Sie als eigenständiges Genre zu begreifen, das wäre mir nicht in den Sinn gekommen. (Lernen Literaturwissenschaftler dergleichen im Studium? Das würde mich wirklich einmal interessieren.)
Glücklicherweise trägt die aktuelle Akzente-Ausgabe nun wieder einmal zu meiner Bildung bei und macht mir klar, dass Aphorismen nicht nur als eigenständiges Genre anzusehen sind, sondern dass mitunter ein ganzes Werk ganz um dieses Genre angelegt sein kann. Das Beispiel: Nicolás Gómez Dávila, geboren 1913 in Bogotá, Kolumbien und gestoren 1994 ebenda.
Ich finde die Vorstellung, ausschließlich tiefsinnige eindestillierte Weltwahrheitssätze zu produzieren, auch nach der Lektüre der Dávila-Aphorismen und Essays über sie und den Autor ein wenig merkwürdig. Aber sie haben doch auch einen unwiderstehlichen Reiz: sie sind so schön tiefsinnig, eindestilliert und — wahr?
Lieber p.-, dies hier war das Zitat zum Thema Nachwelt, das mir letztens am Telefon nicht wortwörtlich einfallen wollte:
Für die Nachwelt schreiben heißt nicht, daß man uns morgen liest. Es heißt, eine bestimmte Qualität des Schreibens anzustreben. Selbst wenn uns keiner liest.
Am 6. Mai 2008 um 13:52 Uhr
Lieber Benjamin,
natürlich lernen Literaturwissenschaftler/innen etwas über Aphorismen – die sogenannte ´kleine´ Form lohnt. Bald mehr dazu. Auf meiner Reise durch die neue/alte Welt der Weblogs (Riesenmaschine) bin ich auf Kathrin Passig: »» „Sie befinden sich hier“ gestoßen. Schnee und Literatur (vgl. Robert Walser, Adalbert Stifter, Christoph Ransmayr u.a.)
Einen schönen Tag,
Claudia
Am 6. Mai 2008 um 14:12 Uhr
Oho, schön, dass Du mal wieder vorbeischaust und Dich sogar zu Wort meldest!
Ob nun allerdings die Aussagen einer Literatur-Professorin in dieser Frage hier gelten dürfen? Die behaupten ja so viel… Nein, Spaß.
Also wäre diese Lücke in meiner frühen Jugend bereits geschlossen worden, wäre ich nicht von der Universität geflohen. Da sieht man’s mal wieder.
Am 6. Mai 2008 um 19:26 Uhr
Ich habe Aphorismen immer als Genre ausserhalb der Literatur verstanden, eher als Output der Philosophen denn der Literaten (oder derer, die beides sind, beim Aphorisieren wäre der Dichter jedoch ausser Dienst, was er aber niemals sein kann, ein Paradoxon). Aphorismen transportieren Botschaft, Gebrauchsanweisungen, oft sogar Moral, also genau das, was Literatur nicht darf.
Uns Abnormalsterblichen passieren Aphorismen z.B. unter der Dusche, und wenn sie nach dem Haaretrocknen nicht hinweggeweht sind, schreibt man sie auf. Ich habe jedenfalls erst einen produziert, den ich öffentlich preisgeben und unterschreiben kann:
Ansonsten finde ich Fragen ohnehin wesentlich fruchtbarer als (zumeist massiv vereinfachende) Antworten auf Fragen, die oft genug nicht die richtigen sind. Frageaphorismen produziere ich zahllos, notiere sie unter „Delphi-Fragen“. Etwa so: „Was bedeutet die Tatsache, dass immer ein Schuh zu gross ist oder der andere zu klein? Hat der Schuhmacher unsorgfältig gearbeitet oder der liebe Gott?“ Führt automatisch zur Existenzfrage bezüglich Schuhmacher und Gott. Ob die Schuhe mangelhaft sind oder die Füsse. Weshalb Schuhläden sich weigern, nicht zusammengehörige Schuhe einzeln zu verkaufen. Ein Fass ohne Boden, so mag ich es.
Am 6. Mai 2008 um 20:53 Uhr
Das nennst Du einen Aphorismus? Ich hielte es für einen weit verbreiteten Irrtum.
Am 6. Mai 2008 um 21:36 Uhr
Aber sicher, beides. Wenn schon Aphorismen, dann sollen sie wenigstens entlarven. Vielleicht bin ich aber auch nur neidisch auf diejenigen, die tatsächlich Antworten finden; meiner könnte ein Gehässigkeitsaphorismus sein.
Am 6. Mai 2008 um 22:46 Uhr
Bei Cioran zb. nimmt der Aphorismus nicht selten die Gestalt lyrischer Philosopheme an. Ich glaube, die besten Aphorismen stammen von Nietzsche, wenn man eine gewisse Geisteshaltung mit diesem Autor teilt, aber bei Cioran erst wurden sie zu einem Genre. Mir ist diese knappe Art zu reden immer verdächtig gewesen, andererseits aber stimme ich dem zu, was Cioran selbst über den Aphorismus sagt. Er wäre…
Wie ein Witz, der keine Komödie ist, erscheint mir der Aphorismus stets wie der Versuch, einen Sauerbraten in einer Puppenstube zubereiten zu wollen.
Weil du aber, lieber Benjamin, bei der spanischsprachigen Literatur bist, werfe ich noch Antonio Porchia in die Runde. Der hat nämlich aus dem Aphorismus ein wunderbares Subgenre entwickelt: gnomische Dichtung.
Beispiele:
Letzteren finde ich geradezu erstaunlich.
@ LaTortuga:
jetzt wirds pfundig…. außerhalb der Literatur…
Am 6. Mai 2008 um 23:02 Uhr
Da bin ich nur noch sprachlos :-)
Am 6. Mai 2008 um 23:18 Uhr
@Benjamin: ich auch. Das ist ——.
@p.-: Ich hab nicht gesagt, dass Aphorismen nicht literarische Qualität haben können – aber das gilt häufig auch für journalistische Texte oder Sachbücher. Nur ist die Intention eine andere als bei der Literatur „proper“; vielleicht ziehe ich die Grenze ja zu eng. Die von Dir angeführten Beispiele würde ich eher unter Dichtung einordnen, kleinste Form.
Trotzdem ist es nun mal so, dass ein gut Teil der Aphorismen auf Zuckersäckchen und Abreisskalender gehören (es sei denn, ich fasse umgekehrt den Begriff „Aphorismus“ zu weit).
Am 6. Mai 2008 um 23:22 Uhr
Nun mal allen ernstes. Bekomme ich da was nicht mit? WAS IST LITERATUR?
Am 6. Mai 2008 um 23:42 Uhr
Natürlich zunächst mal: alles schriftlich Fixierte. Ursprünglich vermutlich reine Buchhaltung auf Tontafeln, oder sogar Strichkalender der Neanderthaler.
Danach ist auch eine grauenhaft formlose, sprachlich stümperhafte Doktorarbeit Literatur.
Im engeren Sinne ist für mich Literatur wohl Dichtung. Also eben – wie oben gesagt – ohne die Absicht zu belehren oder zu moralisieren oder rein abzubilden. Und das tun Aphorismen oft. (Nach diesem Kriterium müsste ich mich dahingehend korrigieren, dass man jeden einzelnen Aphorismus daraufhin abklopfen müsste. Dann hiesse das Genre „literarischer Aphorismus“.)
Aber ich geb mich dann wohl doch geschlagen. Mir gehen die Argumente aus.
Am 6. Mai 2008 um 23:53 Uhr
Dann müßtest du jegliche Art von Prosa verwerfen. Hat sie einen Wert, wenn sie nicht Poesie ist? Was macht Literatur zu Dichtung? Haben Aphorismen tatsächlich eine Moral? Und die Moral von der Geschicht, wer Literatur hat, hat Morale nicht? haha. Dichtung BELEHRT nicht? Oh wie wunder wird mir.
Am 7. Mai 2008 um 08:48 Uhr
….ist doch was PHILOSOPHISCHES!
Am 7. Mai 2008 um 16:55 Uhr
Kleinformen der Prosa sind bereits Oberstufenstoff. Schüler und Studenten (auch darin anderen Menschen ähnlich) lernen aber genau das, was sie bereit sind zu lernen. Alles andere kippt über die Ränder.
Am 7. Mai 2008 um 20:44 Uhr
:-) @sonogara
Am 7. Mai 2008 um 20:52 Uhr
Mich interessiert das wirklich. Nehmen wir doch mal den Aphorismus. „Kleinformen“ ist hier irritierend, denn auch die Erzählung mag dazugehören. Unterscheidet sich die Aphoristik nicht dadurch, daß sie in ihrem besten Fall den reinen Gedanken birgt?
Ist die Kleinform Oberstufenstoff, tut sich die Frage auf, ob dann eine Langform (im Endeffekt das Geschwafel) sozusagen von vorneherein als Kloake betrachtet wird, durch die man waten muß, um dann bei einem einzigen Wort (im besten und unmöglichsten Fall) anzulangen.
Am 7. Mai 2008 um 21:31 Uhr
@perkampus: was verstehst Du unter einem REINEN Gedanken. Aphoristik konzenriert sich auf das Wesentliche einer Erkenntnis. Also wird eine Ausführung über Inhalt und Sinn überflüssig.
Am 7. Mai 2008 um 22:07 Uhr
Aber wie kommt es, daß der Rezipient dann das WESENTLICHE eines aphoristischen Gedankens beitragen muß? Überhaupt eines jeden Werkes. Ursprung der Literarizität, nicht wahr:- wer EMPFÄNGT, belebt. Gebahren, Gebärde, Geburt. Ich verstehe unter einem reinen Gedanken, was unmöglich in Worten auszudrücken ist. Das ist übrigens einer der Gründe für Dichtung ganz allgemein: man will mal sehen, ob das stimmt, oder ob sich dieses Problem nicht irgendwie umgehen läßt.
Am 7. Mai 2008 um 23:30 Uhr
Umgehen lässt es sich sicherlich nicht! Nur der Umgang des Problems ist schon eine gewaltige Sache an sich und wäre ein Aphorisma wert. Die Rolle des Rezipienten sei diese Sache, dass ihn das Gelesene dort trifft, wo er anzutreffen ist:-)
Am 7. Mai 2008 um 23:36 Uhr
Man darf etwas nicht weiter bereden als bis zu einem Satz hin, den zu überbieten (im Versuch, mehr kann es nicht), lächerlich erschiene.
Am 8. Mai 2008 um 13:45 Uhr
Sag mal, Benjamin, hast Du noch nie was von Lichtenberg (Georg Christoph) gehört? Er hat fast ausschliesslich Aphorismen hinterlassen und bereitet Literaturwissenschaftlern nach wie vor einiges Kopfzerbrechen. Seine Sudelbücher sind wunderbar! Unbedingt lesen (ob das den Aphorismenschreibern die Merkwürdigkeit nimmt – ich hoffe nicht. Merk- und denkwürdig ist es allemal. Es gibt sehr kluge Aphorismen, die nur auf den ersten Blick sofort einleuchten. Wenn man jedoch genauer hinschaut, findet man sich plötzlich in einer komplexen Gedankenwelt wieder). Ich habe während dem Literaturstudium ganze zwei Semester über Aphorismen gebrütet.
Am 8. Mai 2008 um 14:08 Uhr
Wenn Du wüsstest, von wie vielen Dingen ich noch nichts gehört habe und – was vielleicht noch schlimmer ist – von wie vielen Dingen ich sehr wohl schon gehört, die ich aber vollständig wieder vergessen habe…
Am 8. Mai 2008 um 17:07 Uhr
@Benjamin,
Hehe, es ist doch so, dass man mit dem Wenigen, was man weiss, hausieren gehen muss, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet…
Am 8. Mai 2008 um 17:32 Uhr
Das ist richtig. Und ich gehe gern hausieren mit den Dingen, die ich nicht (mehr) weiß, damit meine geschätzten Leser mit Ihrem Wissen glänzen können. So macht es allen Freude :-)
Am 8. Mai 2008 um 18:40 Uhr
:-) ja sicher, lieber Benjamin, Du könntest diese Kommentarstellen zum Musenkapitel hinzufügen. Es könnte ja sein, dass sich einige Leser in ein Musenkostüm denken oder umgekehrt, sich als eine Muse behauptend, zu Worte schreiben.
Am 8. Mai 2008 um 21:01 Uhr
Na ja, „Kleinformen“ oder „Kurzformen“ macht sich, der leichteren Handhabbarkeit halber, an einer formalen Oberflächlichkeit fest. Natürlich hat eine Anekdote eine andere Zielrichtung als ein Gleichnis, ein Witz eine andere Orientierung als eine Fabel, usw. Und ja, auch kurz gefasstes Erzählendes fällt unter dieses weitgreifende Genre, bis hin zur vielseitigen Kurzgeschichte. Einheitlich bei den Kürzestformen (den Begriff habe ich jetzt abgrenzungshalber erfunden) ist die Einsträngigkeit des Plots, meist ergänzt durch ein polyphones Spiel auf der Obertonklaviatur. Auch ein Witz realisiert sich in der Regel erst im Bedeutungswandel.
Das Besondere am gelungenen Aphorismus ist – meiner Ansicht nach – der schnelle Wechsel von der Schamesröte zum Heureka-Erlebnis! Nur der Rezepient, der gut getroffen wurde (der sich wiedererkennt, identifiziert), kann sich wandeln und damit von der Schwungkraft der aphoristischen Erkenntniswucht mitgerissen werden, die zunächst als Unwucht wahrgenommen wird.