Tenebrae

2. Mai 2008

Tregua – Luis Vence
Tregua – © Luis Vence

Nah sind wir Herr,
nahe und greifbar.

Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.

Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.

Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.

Zur Tränke gingen wir, Herr.

Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.

Es glänzte.

Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr.
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.

Bete, Herr.
Wir sind nah.

Paul Celan
aus: „Sprachgitter“

••• Eine Ergänzung zum Video von gestern: „Tenebrae“ stammt aus dem Band „Sprachgitter“. Ich war zunächst verwundert über die christliche Symbolik, die man bei Celan nicht vermuten würde. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Titel, dessen Bedeutung ich nachschlagen musste.

Tenebrae (von lat. Dunkelheit, wörtlich Schatten) ist eine alte Form der Karmette. Der Name stammt vom Anfang des achten Responsoriums Tenebrae factae sunt, dum crucifixissent Jesum Judaei (Finsternis entstand, als die Juden Jesus kreuzigten). Es handelt sich um eine christliche, (vorwiegend katholische) liturgische Feier, welche Teil des Stundengebets der Mönche war und in den drei Nächten der Karwoche vor der Osternacht als Mette (Matutin, Nachtgebet) gefeiert wurde. Die Feier fand in der Dunkelheit statt, um die Todesangst Jesu am Ölberg nachzuempfinden und das Geschehen des Karfreitags zu reflektieren. Die Feier wird durch verschiedene Riten gekennzeichnet, von denen manche noch in den heutigen Karmetten verwendet werden, wie z.B. das stufenweise Auslöschen von Kerzen. Frühere Riten wie das Stampfen des Zeremonienmeisters am Ende der Feier sind heute dagegen nicht mehr üblich. Das Stampfen symbolisierte das Herannahen der Häscher des Hohen Rats.

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