Gefallen waren die Namen – Freud, Jung, Poe und Wilde – in einem Gespräch über den Talmud-Traktat, den ich gerade in der Yeshivah lernte: Brachot. Ich hatte ihn fast beendet, und nach vielen, vielen grossen Folioseiten voller trickreicher Gesetzesherleitungen war ich auf eine der geliebten, weil entspannenden aggadischen Passagen gestossen, keine Gesetze, keine Berechnungen, sondern Geschichten – und zwar über Träume, ihre Deutung und Bedeutung, zwei Dinge, die, wie man aus der Gemara lernen konnte, durchaus zwei völlig unterschiedliche Dinge waren.
Der Satz, der eben jene Passage einleitete, hatte mir Schwierigkeiten bereitet: Ein ungedeuteter Traum, hiess es dort, ist wie ein ungelesener Brief. Und weiter hiess es: Alle Träume folgen dem Mund. Ganz gleich, lehrten die Weisen, was wir sähen in einem Traum, Bedeutung würde es nur durch die Deutung erlangen. Einmal ausgesprochen aber hätte die Deutung Bestand und würde sich erfüllen.
Warum dann, hatte ich meinen Vater gefragt, sollte man den Brief überhaupt öffnen? Und wennschon, warum sollte man ihn von jemand anderem öffnen lassen, wenn doch die Deutung unser Leben in eine verhängnisvolle Richtung lenken konnte, in die es sich nicht wenden würde, hätten wir nicht geträumt oder doch zumindest den Traum nicht gedeutet?
Auch konnte ich nicht verstehen, dass ein Traum tatsächlich von sich aus wertfrei sein und doch, dem Mund des Deuters nachgehend, die Kraft haben sollte, unser Leben zu ändern, Glück oder Unglück über uns zu bringen, ganz so, als hätte Gott die Würfel geworfen, ohne sich im Geringsten dafür zu interessieren, wie sie fallen würden. Und wenn schliesslich all dies tatsächlich so sein sollte, warum, fragte ich, sollte man dann überhaupt träumen?
Aber ja, hatte mein Vater geantwortet. Träume, darauf bestand er, hätten unbedingt die Macht, unser Leben zu verändern. Beweise dafür gäbe es zuhauf und auch guten Grund, die Deutung unserer Träume anderen anzuvertrauen. Wir selbst nämlich könnten in ihnen nur sehen, was unser Ich zu sehen bereit sei. Und manche Seelen seien leider so beschaffen, dass sie Katastrophen entdeckten in jedem Zeichen wie Tintenstrudel im klarsten Wasser. Und andere wiederum würden den Schatten eines gigantischen Felsens selbst dann noch nicht wahrnehmen, wenn er bereits unmittelbar über ihnen schwebte und alles um sie bereits ins Dunkel getaucht war.
Was für Beweise, fragte ich weiter, sollten das sein? Und ich verlangte nach greifbareren Beispielen als jenen in der Gemara, die mir zu weit entfernt erschienen, um sie für verlässlich halten zu können.
Es gibt sie, antwortete mein Vater, ohne zu zögern. In der Psychoanalyse beispielsweise und in der Dichtung. Und er erzählte mir von Poes „Grube und Pendel“ und verband die Geschichte mit den Heilungen der Psychotischen in der Schlangengrube, mit dem Wolfsmenschen und Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“, einem Roman, in dem der Dolchstoss ins Herz eines Bildnisses den Menschen tötet, den das Bild zeigt.
Ich hatte keinen Schimmer, woher mein Vater all dies wusste. Poe und Wilde kamen weder in der Torah noch im Midrasch vor, und von Dichtung war in der Yeshivah höchstens die Rede, solange es sich um Hymnen an die Cheruben und Seraphen handelte, die den Thron des Ewigen umschweben. Dass mein Vater offenbar auch aus anderen Quellen geschöpft hatte, beunruhigte mich nicht. Ich lauschte gebannt. Und es störte mich auch nicht, dass er mich mit mehr offenen Fragen zurücklassen würde an diesem Abend, als er mir beantwortet hatte.
Wie wichtig es sei zu träumen, hatte er schliesslich mit gehobenen Brauen gesagt, das wüssten wir schon von Jesaja. Denn nichts anderes, so der Prophet, bedeute das Wort Traum als: Mögest Du mich stärken.
© Benjamin Stein (2008)