Gabe und Strafe (4)

13. Februar 2008

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Leichter, wenn auch nur ein wenig, liess sich die Frage klären, was sich hinter der stets verschlossenen Tür zum Elternzimmer verbarg. Doch wie bei so vielen Fragen in meinem Leben, so drängend sie mir auch erschienen waren, löste ich sie nicht selbst, nicht durch Raten, Erkundigungen, Forschen, nicht durch eine Tat. Die Antwort wurde mir vor die Füsse gelegt, und zwar im Wortsinne, nämlich in Gestalt eines der beiden Schlüssel, die meine Eltern für gewöhnlich immer bei sich trugen.

Ich wusste zunächst nicht, wessen Schlüssel es gewesen war, den ich eines Tages direkt vor der geheimnisvollen Tür auf dem Boden liegen sah. Dabei hätte ich es zu gern gewusst, denn ich konnte nicht glauben, dass er nach so langen Jahren aus Nachlässigkeit in meine Hände gefallen war und ausgerechnet in einem Moment, da mich wirklich drängend interessierte, was man dort, hinter dieser Tür, offenbar über Jahre vor uns Kindern geheim zu halten versucht hatte. Und als ich schliesslich, nachdem ich die Tür geöffnet und das verbotene Zimmer betreten hatte, nach nur wenigen Sekunden, hastigen Blicken, ohne etwas im Raum verändert, ja nur berührt zu haben, entdeckte, worin das Geheimnis bestand, mochte ich noch weniger daran glauben.

Es war Dezember, doch der ersehnte und täglich im Gebet erflehte Regen war noch immer ausgeblieben. Der mittägliche Himmel schwebte, kühl und klar, über den Toren des Viertels, und das Sonnenlicht schwamm durch die Fenster, die zur Strasse hinausgingen, in den kleinen Raum. Es beleuchtete das Verborgene, es führte mich direkt dorthin. Es leckte über die Wände, den Schrank, das Bett, und führte meinen Blick zu einem schmalen, doch raumhohen Regal voller Bücher – goyischer Bücher, verbotener Bücher.

Das Regal war ein Traumregal, und zwar in zweierlei Hinsicht. Es war angefüllt mit Wissen, das ich ersehnt hatte, Wissen, das den Kosmos der engen Strassen und Gassen unseres Viertels sprengte und über die strikten Grenzen, innerhalb derer wir lebten, hinauswies und hinaustragen konnte. Das erschien mir nicht weniger als die Erfüllung eines Traumes, ja vieler Träume. Sie alle waren in Gestalt von Büchern aufgereiht vor meinen Augen. Danach zu greifen allerdings wagte ich noch nicht.

Es handelte sich jedoch auch im wahrsten Sinn des Wortes um ein Regal voller Träume. In den Regalreihen vor mir fanden sich nämlich Bücher von Autoren, von denen mir mein Vater wenige Tage zuvor erst erzählt hatte, als hätte es ihn gedrängt, mich auf die Fährte zu setzen, mich anzustacheln, das Geheimnis zu lüften und diese Bücher zu öffnen wie eine Tür zu einem bislang verbotenen und sorgsam verschlossenen Raum, der lange anderen vorbehalten gewesen war.

© Benjamin Stein (2008)

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