Gabe und Strafe (3)

12. Februar 2008

Meah Shearim
Meah Shearim

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Die neue Wohnung lag nur wenige Strassen von der alten entfernt. Für den Umzug liehen meine Eltern sich Leiterwagen von den Nachbarn aus. Zwei Jungen aus der Nachbarschaft halfen beim Tragen. Und das, obwohl die Nachbarn unverhohlen missbilligten, dass wir nicht im Viertel blieben. Das neue Haus nämlich, wenn auch nur wenig mehr als zweihundert Meter vom alten Haus entfernt, gehörte bereits zu einer anderen Welt.

Wir zogen in die Rechov Malchei Yirael, nach Geula, was so viel wie Erlösung bedeutet. Dabei überquerten wir nicht nur eine Sprachgrenze (man sprach dort nicht Jiddisch, sondern Iwrit), wir machten auch eine Zeitreise von etwa einhundert Jahren und luden unseren Hausrat in einem anderen Kontinent der jüdischen Welt ab. Man sah dort nicht nur Strejml, Schwarzhüte und Kaftan. Manche Männer gingen – wenn auch in schwarzen, so doch – in Jeans! Dass mein Vater ein Geschäft eröffnete und also statt von morgens bis abends nur noch ein, zwei Stunden am Abend über den heiligen Büchern sass, das war hier kein Grund, eine Freundschaft zu kündigen.

Ich weiss seit jenem Augenblick damals, jenem Moment, der meiner Strafverkündigung vorausgegangen war, dass nicht nur mein Leben durch diesen Umzug gerettet worden ist, sondern auch das meiner Eltern. Sie müssen sich, diese wenigen hundert Meter weiter abseits vom Zentrum der Heiligkeit unendlich wohler gefühlt haben, unendlich weniger unter Druck, sich beweisen und also, wie ich seither weiss, verstellen zu müssen.

Davon aber hatte ich über Jahre nicht den Hauch einer Ahnung. Denn wir waren in Geula die Schwarzen von nebenan. Mein Vater legte den Kaftan keineswegs ab. Und selbstverständlich schickte er mich ins Cheder in unserer früheren Nachbarschaft, wo ich lesen und die Arten und Abfolgen der Opfer im alten Tempel lernte. Nicht weniger selbstverständlich, denn ich lernte gut und fiel nicht auf, kam auch keine andere Yeshivah in Frage als die direkt neben eben jenem Cheder. Und sicher, ja, da bin ich mir sicher, war es nie anders vorgesehen, als dass ich mit neunzehn oder zwanzig, verheiratet und frischer Vater im gleichen Kollel Gemara lernen würde wie mein Vater an den Abenden, nachdem er das Geschäft geschlossen hatte. Alles ganz so, wie es sich gehörte und als hätte sich nichts verändert, abgesehen davon, dass der Ewige für meine Familie damals, um die fünfzehn Jahre zuvor, keine passende Wohnung in Meah Shearim hatte finden wollen und uns daher in die Fremde von Geula geschickt hatte, als Prüfung vielleicht, wer konnte das schon wissen?

© Benjamin Stein (2008)

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