Times Arrow

21. Januar 2008

Martin Amis: Times Arrow

••• Für das neue Buch schwebt mir eine Erzählkonstruktion vor, die einfach, aber hinterhältig ist. Die Leser mögen mir nachsehen, dass ich dies hier nun wirklich nicht verraten kann. Es hiesse, zu viel preiszugeben. Das Nachsinnen über Erzählstrukturen und Erzählfiguren (ja, tatsächlich geometrisch, wie es etwa Herbsts Zeichnungen in seiner 3. Heidelberger Vorlesung illustrieren), das Nachdenken darüber hat mir auch einige Beispiele wirklich ungewöhnlichen und originellen Erzählens ins Gedächtnis gerufen. Ein solches Beispiel ist der Roman „Times Arrow“ (deutsch: „Pfeil der Zeit“) von Martin Amis.

Der Ich-Erzähler Todd Friendly erwacht zu Beginn des Buches von den Toten, erholt sich allmählich, bis ihm nach einigen Tagen schliesslich schwarz vor Augen wird. Sanitäter ziehen ihn an, verfrachten ihn auf eine Trage, bringen ihn mit der Ambulanz zu seinem Haus, legen ihn im Garten auf den Boden, machen sich mit einem Defibrillator an ihm zu schaffen und verschwinden. Einige Zeit liegt er bewusstlos im Gras, bis er schliesslich einen Schmerz im Herzen spürt, der ihn zu zerreissen droht. Dann erwacht er und macht sich an die Gartenarbeit.

Es dauert einige Seiten, bis man erkennt, dass Amis rückwärts erzählt. Die gesamte Geschichte, alle Handlungen laufen in der Zeit zurück. Ganz folgerichtig wird das Buch 200 Seiten später mit Todds Geburt enden.

Die Technik des Rückwärtserzählens wird brilliant durchgehalten. Es ist zum Teil augenöffnend, was mit einer Geschichte geschieht, die umgekehrt wird. Eine der für mich gelungensten Stellen, obgleich vom Ende des Buches, möchte ich hier zuerst zitieren:

[…] Trotz meines schlimmer werdenden Elends munterte mich die Rücknahme der Rassengesetze auf. Obgleich selbst hier eine sadistische Ironie am Werke war, weil diese progressiven Entwicklungen stets mit irgendwelchen neuen Verboten seitens Herta einhergingen. Ja, sehr komisch, zweifelsohne. Schritt für Schritt bewegten sich die Juden blinzelnd ins Sonnenlicht. Während ich nach und nach degradiert wurde: verspottet und verschmäht von allen Freiheiten der Liebe. Zum Beispiel.

Blinde und taube Juden dürfen jetzt Armbinden tragen, so daß man ihren Zustand im Verkehr ganz deutlich erkennen kann. Nicht länger mehr habe ich in Hertas Vorstellung von den Dingen einen Unterleib, ein externes Herz. Für immer bin ich von allem unterhalb der Gürtellinie abgeschnitten.

Man erlaubt den Juden das Halten von Haustieren; Wellensittiche und Hunde etc., die an Polizeistationen ausgeteilt werden; Juden, die vor Dankbarkeit weinen, wenn sie ihre neuen Spielgenossen mit nach Hause nehmen. Herta beginnt, anders zu atmen, wenn wir uns küssen; sie ist stets selbstbeherrscht; jede meiner Bewegungen wird kalt überwacht.

Man erlaubt den Juden den Kauf von Fleisch, Käse und Eiern. Die Zurücknahme aller meiner Privilegien beim Picknick, obgleich ich um meine Gesundheit weine und Blumen auf englisch benenne, bis ich schwarz werde.

Man ermächtigt die Juden, freundliche Beziehungen zu den Ariern aufzunehmen. Herta sagt nicht mehr länger: »Ich liebe Dich«. Ich sag’s noch immer. Die Küsserei geht weiter, so lala, aber Zungen sind jetzt absolut verboten.

Martin Amis, aus: „Pfeil der Zeit“

Keine noch so interessante handwerkliche Originalität wird nun aber allein einen Roman gut machen können, wenn sie nicht auch gut motiviert ist. In einem Detail der Erzählung von Todds Erweckung vom Tod ganz zu Beginn des Buches liegt der Schlüssel, das Motiv: die Ärzte an Todds Auferstehungsbett tragen weisse Kittel und – schwarze Stiefel. Der Entschluss Todds, von seinem Leben zu berichten, muss nach seinem Tod gefällt worden sein. Wem berichtet Todd? Vor wem legt er möglicherweise Rechenschaft ab über sein Leben?

Todds Bericht ist eine Verteidigungsrede. Und Todd muss in der gewählten Reihenfolge erzählen: um ein Leben vorweisen zu können, in dem alles in unaufhaltsamer Folgerichtigkeit dem Guten entgegenläuft…

Was unsere Einheit tat, konnte man vermutlich als eine natürliche Fortsetzung meiner Arbeit im Lager betrachten. Wir befanden uns an der Schnittstelle zwischen Bürokratie und Öffentlichkeitsarbeit. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Juden dekonzentriert, wurden zurück in die Gesellschaft geschleust, und es fiel uns zu, dabei zu helfen, die Ghettos abzureißen und zu eliminieren, jene Ghettos, wo es niemals Licht gab und wo die Kinder alle so alt und weise aussahen und wo sich ein jeder viel zu langsam oder viel zu rasch bewegte. Man spürte, die Ghettos waren selbst als Übergangslösung ein Fehlschlag, man hatte kurz, jedoch ekelerregend, den Verdacht, das ganze Unternehmen, der ganze Traum, sei auf fatale Weise grandios gewesen; zu viele, zu viele. Wie es einen danach verlangte, die Mauern niederzureißen! Aber das war schließlich unsere Mission: Deutschland wieder ganz zu machen. Seine Wunden zu heilen und es wieder ganz zu machen… Ein Ghetto, das von Litzmannstadt, hatte einen »König«: Chaim Rumkowski. Ich selbst sah ihn in seiner Kutsche durch die apathischen Straßen paradieren, mit Höflingen, die Kutsche wurde von einem weißen Pferd vorangezogen, das aussah wie eine Papiertüte voller Wasser und Knochen. Rumkowski war ein Herr. Aber ein Herr wovon?

Nun ja, wir legten uns tüchtig ins Zeug, transportierten die Menschen zurück in ihre Städte und so weiter. Logistik. Aber die Arbeit hatte auch ihre schöpferische Dimension.

Wir benutzten Lastwagen, Lastwagen, gekennzeichnet mit dem Roten Kreuz; und Maschinengewehre; und Dynamit. Wie sich herausstellte, hatte ich ein bescheidenes Talent für Neuropsychiatrie. Die Männer, die meine Sprechstunde aufsuchten (und denen ich Sedative verschrieb), beklagten sich eine Weile lang über Alpträume und Angstzustände — aber sie alle erholten sich am Schluß der Fahrt. Die Maßnahmen, auf die wir zeitweilig beschränkt waren, erwiesen sich als enttäuschend unelegant und erforderten in Fällen, wo man Dynamit verwendete, Stunden einer rückenbrechenden Vorbereitung.

Eines Morgens, der Graupel fuhr schräg zum Himmel, und die Lachen auf der Erde waren gefroren, luden wir einige jüdische Familien in einem unzivilisierten Dorf am Flusse Bug aus. Es war die übliche Abfolge: Wir holten diesen Schub aus dem Massengrab im Wald und warteten am Lastwagen auf der Zufahrtstraße, während sich das Kohlenmonoxid an die Arbeit machte. Alle meine Leute waren wie Ärzte gekleidet, mit weißen Kitteln, mit den herabbaumelnden Stethoskopen; sie redeten, lachten, rauchten, während wir auf das vertraute Schreien und Wimmern aus dem Innern warteten. Ich selbst spielte mit einer philosophischen Perfecto…

Martin Amis, aus: „Pfeil der Zeit“

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