••• Ich muss für einen Moment das Thema wechseln…
So, dachte ich, müsste ich diesen Beitrag beginnen. Aber das trifft gar nicht zu. Denn wenn von Holocaust die Rede ist, dann ist implizit natürlich auch die Rede vom Antisemitismus, dessen extremste Äusserung die Shoah war. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass ich mich an einem der letzten Abende an die „Protokolle der Weisen von Zion“ erinnerte und mich online auf die Suche nach Informationen machte. Es sind gleich mehrere Aspekte, die mich bei einem Buch wie diesem interessieren.
Zum ersten bildet den Kern dieses Machwerks eine Szene, die einem Roman entnommen ist. Zweitens stammt das argumentatorische Material der „Protokolle“ aus einem Buch von Maurice Joly. In seinem „Dialog zwischen Montesquieu und Macciavelli in der Hölle“ zielte er auf die despotische Herrschaft Napoleons III. Diese öffentlich zu kritisieren, war, als der „Dialog“ 1864 erschien, nicht ratsam. Die Übertragung aufs „Namenlose“, durch die das Buch überhaupt erscheinen konnte, liess denn auch den interpretatorischen Freiraum, der den Missbrauch für die „Protokolle“ ermöglichte. Drittens ist ein Buch wie dieses ein Beweis, welche ungeheure Macht das gedruckte Wort hat und selbst eine erfundene Geschichte haben kann. Und viertens schliesslich beschäftigt in der Auseinandersetzung damit die Frage, ob und wann Bücher zu verbieten seien.
Ich hätte, das räume ich ohne Umschweife ein, gern den Originaltext gefunden und gelesen. Ich habe womöglich nicht intensiv genug gesucht. Hängengeblieben bin ich jedenfalls bei einer Arbeit, die 1999 bei antifa-info veröffentlicht wurde und als PDF erhältlich ist. Der Beitrag beschreibt die Entstehungsgeschichte, die zusammengeklaubten Bestandteile, benennt die Giftmischer und zeichnet in sehr interessanter Weise die Wirkungsgeschichte nach.
Wir haben im Jahre 1999 keine Vorstellung mehr davon, welche Verbreitung und Glaubhaftigkeit das ominöse Machwerk der „Protokolle“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlangt hatte. Während eine Untersuchung aus den Achtzigerjahren (1980) belegt, dass weniger als 5% der Unter-Vierzigjährigen die „Protokolle“ dem Namen nach kannten, schätzte der französische Historiker Henri Rollin, dass die „Protokolle“ in den Dreißigerjahren nach der Bibel das am weitesten verbreitete Buch der Welt war!
Der Autor endet nicht mit dem nazistischen Vernichtungshöhepunkt der Wirkungsgeschichte, sondern geht auch der Verbreitung und der Virulenz des Gedankenguts in der Zeit nach 1945 bis heute nach. Dabei wird Stalin ebenso wenig ausgelassen wie die Ostblockstaaten, die USA und die heutige islamische Welt, in der die „Protokolle“ auch heute noch zum Bestseller taugen. Der Islamischen Republik Iran beispielsweise ist es von Staats wegen ein Herzensbedürfnis, dieses Buch nicht nur in Persisch oder Arabisch, sondern auch in Englisch publik zu machen und sogar auf der Frankfurter Buchmesse (2005) zu präsentieren.
Noch immer würde ich das Original gern lesen – und zwar aus einem „literarischen“ Interesse heraus. Wie ist ein Buch geschrieben, dass sich in so unfassbar vielen Varianten uminterpretieren und auf jede missliche Lage der Weltpolitik anwenden lässt in einer Weise, dass noch immer genügend Publikum dazu eifrig nickt und der Verschwörungstheorie glaubt?
Aber ich glaube andererseits schon nach der Lektüre des oben genannten Beitrags nicht, dass ich um dieses Erkenntnisgewinns willen so ausgiebig im Schlamm eines solchen Buches wühlen möchte. Es bleiben also – wie so oft – einige der obigen Fragen offen.
Am 17. Januar 2008 um 21:15 Uhr
Ganz hervorragend beschrieben ist die Entstehungsgeschichte der „Protokolle“ auch von Umberto Eco in seinem Büchlein „Im Wald der Fiktionen“ (ist’s, glaub ich, ich hoffe, ich täusche mich nicht). Auf Ecos Kappe geht die Entdeckung weiterer Quellen der Protokolle.
Am 17. Januar 2008 um 23:31 Uhr
Danke für den Hinweis.