Der Fall Wilkomirski

13. Januar 2008

Stefan M?chler: Der Fall Wilkomirski••• Das zweite der gestern erwähnten wesentlichen Bücher zum Wilkomirski-Fall stammt von Stefan Mächler. Er ist Historiker und wurde von der Agentur, die Wilkomirski über die Jahre vertrat, einer Gruppe betroffener Verlage und autorisiert von Wilkomirski selbst mit der Untersuchung der historischen Fakten beauftragt, als eine umfassende Aufklärung notwendig wurde.

Sein Auftrag bestand offiziell nur darin, zu klären, ob der Autor Wilkomirski und der Schweizer Bruno Grosjean-Doessecker identisch und eine Vertauschung des Jungen zu irgendeinem Zeitpunkt ausgeschlossen sei. Damit wäre abschliessend geklärt, ob Wilkomirskis Erinnerungen authentisch seien oder nicht.

Stefan Mächler fasst dieses Mandat weiter auf und fasst seine Ergebnisse auch ganz anders zu einem umfassenden Bericht über den Fall zusammen, als dies etwa in Ganzfrieds Buch zuvor geschehen war. Das Vorgehen Mächlers ist mir ausserordentlich sympathisch; denn an keiner Stelle denunziert oder wertet er moralisch. Er versucht, Antworten zu finden, versucht zu verstehen – ein ganz anderer Ansatz als bei Ganzfried.

So beginnt Mächler mit den recherchierbaren Fakten über die Eltern Bruno Grosjeans und schildert sie ohne jeden Rückschluss darauf, ob jener Bruno Grosjean nun tatsächlich Wilkomirski sei oder nicht. Im zweiten Teil des Buches lässt er Wilkomirski – via Zitate aus den „Bruchstücken“ sowie gestützt auf Protokolle zahlreicher persönlicher Interviews mit Wilkomirski – zu Wort kommen. Er zeichnet die Entstehungsgeschichte des Buches nach und zeigt dabei, wie sich die Geschichte selbst unter den Händen Wilkomirskis in den Jahrzehnten vor Erscheinen des Buches mehrfach wandelt, bis sie schliesslich die später behauptete und im Buch veröffentlichte Form erhält. Dabei geht Mächler auch intensiv auf die Methoden ein, die Wilkomirski verwendet hat, um seine Erinnerungen, von denen er behauptet, sie nie verloren zu haben, in einen historischenn Kontext stellt – nämlich den einer Shoah-Biographie. Er geht auch der Frage nach, welche Rolle das persönliche Umfeld – u. a. die Lebenspartnerin und der Analytiker – gespielt haben.

Man gewinnt bei Mächler den Eindruck, dass, bevor ein Geschäft daraus wurde, alle Beteiligten nur aus bestem Wissen und Gewissen gehandelt hätten. Jedem einzelnen, so scheint es, war mit der Geschichte und ihrer Erforschung geholfen. Wie stark im Psychotischen man sich bereits bewegen muss, um den Umstand, nicht beschnitten zu sein, auszublenden – worüber Wilkomirski Daniel Ganzfried bei deren ersten Treffen glatt ins Gesicht belügt – das bleibt für mich dennoch offen.

Stück für Stück demontiert Mächler dann die „Fakten“, die Wilkomirskis Behauptungen stützen. Er zeigt – ein unschätzbarer Wert dieses Buches – woher Wilkomirski die einzelnen Bruchstücke bezog, aus welchen Büchern, Filmen, von welchen Zeugen, deren Geschichte er umwidmete und an die eigene band. Letztlich schliesslich, da Mächler davon überzeugt ist, keinen kaltblütigen Fälscher, sondern einen Kranken vor sich zu haben, geht er den Anhaltspunkten in den ersten Lebensjahren Bruno Grosjeans nach, in denen er das Urtrauma ausmachen zu können meint, das für Bruno unaussprechlich blieb und erst im Mantel der Wilkomirski-Erinnerungen zu einem adäquaten Bild fand.

Es muss entsetzlich sein, sich selbst derart durchleuchtet und demontiert zu finden. Andererseits kann man Mächler nicht hoch genug anrechnen, mit welchem persönlichen Respekt vor der Intimsphäre und den ganz persönlichen Beweggründen jedes einzelnen Beteiligten er diese Erkenntnisse aufgenommen, verarbeitet und schliesslich im Buch präsentiert hat.

Als Quelle für ein Romanprojekt in der monologischen Methode, wie ich sie auch für das geplante Buch wieder verwenden werde, ist ein solches Buch natürlich Gold wert. Denn wenn die Personen alle aus der Ich-Perspektive berichten, wäre genau dies die Position: selbst moralisch legitimiert, frei von Irrtum, ganz einer die Not wendenden Entwicklung folgend. Wertungen bezögen sich höchstens auf andere Beteiligte.

Gern weise ich hier noch einmal explizit auf die Besprechung des Buches durch Christiane Zintzen hin. Christiane ist seit kurzem mit ihrem Blog in|ad|ae|qu|at bei litblogs.net gelistet und machte gestern per Kommentar auf diese Online-Quelle aufmerksam.

3 Reaktionen zu “Der Fall Wilkomirski”

  1. czz

    Danke für die diskrete Befussnotug. In der Tat: „Der Fall W“ hat auch die psychoanalytische Forschung hinsichtlich der der „fausse mémoire“ auf Trab gebracht, inklusive der Traumaforschung. Wir finden es heute oft im Vrai-Faux misshandelter – oder eben nicht misshandelter Kinder wieder. – Muß das jetzt zynisch klingen, wenn solche Settings eine bemerkenswerte neue Möglichkeit für die Literatur eröffnen, neue Valenzen zwischen a. dem pathologischen und b. dem Intakten auszuloten?

  2. Benjamin Stein

    Muß das jetzt zynisch klingen, wenn solche Settings eine bemerkenswerte neue Möglichkeit für die Literatur eröffnen, neue Valenzen zwischen a. dem pathologischen und b. dem Intakten auszuloten?

    Sie sind ganz in die Irre geführt, wenn Sie meinen, ich wollte Valenzen zwischen dem pathologischen und Intakten ausloten. Nichts liegt mir ferner. Zunächst einmal halte ich alle so genannte psychische Krankheit für einen Ausdruck von etwas Intaktem: nämlich der Fähigkeit der Psyche (oder meinetwegen der Seele), sich selbst zu heilen.

    Je länger ich mir den „Fall“ hier ansehe, der den Hintergrund des Geschehens im Buch abgeben soll, desto deutlicher wird mir, wir sehr allen Beteiligten durch das Behauptete geholfen war. Gerade deswegen wurde es geglaubt.

    Zweitens beschäftigt mich ja vor allem die Frage der Wirklichkeit. Was ist wirklich? Ist es die Biographie, also historisch verifizierbare Fakten eines Lebens? Oder ist es die Identität, die allzu oft gemacht ist, angenommen, willentlich oder unbewusst geformt?

    Ich werde mich schwer hüten, Bewertungen vorzunehmen oder zu moralisieren in dieser Geschichte. Im Gegenteil glaube ich, dass es ein grosser Reiz dieses Themas ist, dass unklar bleiben könnte, was zählt. Oder dass sich herausstellt, dass historische Wirklichkeit für den einzelnen weniger zählt als die Macht der persönlichen Identität – ganz gleich, wie sie entstanden ist.

  3. … alias Wilkomirski « Turmsegler

    […] Diese Informationslücke hat später der Historiker Stefan Mächler mit seinem Buch “Der Fall Wilkomirski” […]

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