Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Nicht, dass ich tote Menschen sah oder etwas Vergleichbares, das man für übernatürlich hätte halten können. Es war eher das Gegenteil der Fall. Ich glaubte, ein Gespür zu haben für das wirklich Vitale in Menschen, die ich traf und die oft meine Hilfe suchten. Ein Gespür dafür, was sie antrieb oder hinderte, etwas zu tun, dafür, wovon sie zehrten, für jenen Kern in ihnen, den sie selbst in einem offenen Moment vielleicht als ihr Ich bezeichnet hätten.
Was einen Menschen ausmacht, das steht ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es lässt sich nicht dem Klang seiner Stimme ablauschen. Man kann es nicht riechen und schmeckt es nicht einmal aus dem Tropfen Schweiss auf der Schläfe im Augenblick der Angst. Wollte man sich auf Berührungen verlassen, wäre man ganz verloren, denn Tastender und Berührter vermischen sich in der Berührung, und man kann nie sagen, ob man nicht mehr von sich selbst wahrnimmt in einem solchen Moment als von dem Menschen, den man zu erkennen hofft. Auch eine Mischung aus all dem ist es nicht. Nein, das, wovon ich hier spreche, ist mit den uns für gewöhnlich verfügbaren Sinnen nicht zu fassen.
Manche nennen es Seele, andere Psyche. Ich denke, dass es sich bei beiden Begriffen um Irrtümer handelt. Ich bin Wissenschaftler. Dass ich den mehr oder weniger religiösen Konzepten einer Seele als Sitz eines Ich nicht viel abgewinnen kann, wird nicht verwundern. Dass ich hingegen als Psychoanalytiker auch dem Begriff der Psyche skeptisch gegenüberstehe, dürfte schon eher ungewöhnlich erscheinen. Immerhin erklären diese Begriffe, warum die Sinneserfahrung eines Augenblicks uns nicht wirklich voranbringen kann, wenn wir versuchen, einen Menschen zu verstehen. Denn beide Begriffe legen Wert auf das Zeitliche, sei es nun Ewigkeit im Fall der Seele oder Entwicklung oder Formung im Fall der Psyche.
Ja, was uns ausmacht, das sind Sedimente der Zeit, aufgehäuft in uns über Jahre, gepresst und in Form gedrückt. Es ist eine Melange aus allen Berührungen, Gerüchen, Klängen, Bildern und Geschmäckern, denen unsere Sinne begegnet sind im Laufe der Zeit und die nicht vergessen wurden. Ich sehe die Sache unspektakulär: Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Und deswegen existieren wir auch nur, solange das Gefäss existiert, in dem diese Erinnerungen aufbewahrt sind, jenes Geflecht von Neuronen und Synapsen, in dem es biochemisch brodelt und das so leicht seine Struktur wandeln kann wie bestimmte Lösungen in einem Reagenzglas schlagartig die Farbe wechseln, wenn man beginnt, sie zu erhitzen.
Erinnerung ist flüchtig. Erinnerung ist wandelbar und formbar. Mit jedem bewussten Erinnern ändern wir sie und ersetzen im Laufe der Zeit sogar noch die ursprüngliche Erinnerung durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was wirklich geschehen ist? Wer kann so überhaupt sagen, was jemals wirklich war und also auch, was wirklich ist?
Das alles, davon bin ich fest überzeugt, ist auch gar nicht von Belang. Spielt es eine Rolle, auf welche Weise das Neuronengeflecht entstanden ist, in dem unser Ich wie in einem feinen Fischernetz zappelt? Ich sage: Nein, es spielt keine Rolle. Und so stelle ich die Frage auch nicht mehr.
Was nun jenen sechsten Sinn angeht, auf dem mein Erfolg als Psychoanalytiker beruhte und auf den ich mich immer verlassen konnte: Es war — ein Erinnerungssinn. Ich roch, schmeckte, fühlte, hörte und sah Erinnerungen anderer Menschen.
Am 1. Januar 2008 um 17:45 Uhr
[…] sich nach wie vor auf Nachrichten, die mich teilweise auf wundersamen Wegen erreichen. Sein gestriger Brief wurde im Hotel für mich abgegeben, und ich fand ihn, als ich vom arabischen Basar heimkehrte, […]
Am 3. Januar 2008 um 11:08 Uhr
[…] abgegangen, durch die ich Zichroni und den Journalisten werde gehen lassen. Und ich habe einen Anfang, ganz wichtig für mich, wenn eine längere Prosa ansteht. Es ist alles alles beisammen, […]
Am 10. Februar 2008 um 13:40 Uhr
[…] weiss es nicht. Ich bin mir wirklich unsicher, ob ich diese, meine Fähigkeit eine Gabe nennen soll. Täte ich es, wer, müsste ich frage, wäre der Gebende gewesen? […]