Stilübungen

14. November 2007

Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedesmal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf.

Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: „Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.“ Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.

••• Einen Riesendank schicke ich heute an parallalie, der mir geholfen hat, ein Buch wiederzufinden, an dessen Autor und Titel ich mich seit vielen Jahren vergeblich zu erinnern versuchte. Mir waren nur noch Bruchstücke jener banalen Begebenheit im Bus im Gedächtnis und dass der Autor Franzose gewesen war.

So kann man ein Buch vergessen, auch wenn es für das eigene Schreiben einen enorm wichtigen Impuls gegeben hat. Vorgelesen hat mir aus diesem Buch eine Lehrerin. Und das war in der siebten Klasse. Was sich – anders als Titel und Name – bei mir festsetzte, das war ein Aspekt an jenen 108 „Stilübungen“ von Raymon Queneau, in denen er nichts weiter tut, als obige Begebenheit in unterschiedlichsten Variationen und Stilen wieder und wieder zu erzählen.

Gemeint ist die Erzählung einer Begebenheit aus der Sicht verschiedener an ihr beteiligter Personen, eine Technik, die beweist, dass wir Menschen alle in Paralleluniversen leben, die sich, möchte man mitunter meinen, höchstens an den Rändern berühren.

Die drei Beispiele aus den Stilübungen, die ich hier bringe, sind denn auch Variationen auf genau dieses Thema.

 

Die subjektive Seite

Ich war gar nicht so unzufrieden mit meiner Kleidung an diesem Tag heute. Ich weihte einen neuen, recht kecken Hut ein und einen Überzieher, von dem ich wirklich nur das Beste dachte. Vor der Gare Saint-Lazare X getroffen, der es darauf anlegt, mir den Spaß zu verderben, indem er mir zu beweisen suchte, daß dieser Überzieher zu weit ausgeschnitten sei und daß ich noch einen zusätzlichen Knopf daran anbringen sollte. Meine Kopfbedeckung zu kritisieren hat er allerdings nicht gewagt.

Kurz zuvor hatte ich auf elegante Weise einen alten Flegel fertiggemacht, der mich doch jedes Mal, wenn beim Ein- oder Aussteigen jemand vorbeikam, absichtlich brutalisierte. Dies trug sich in einem jener unsauberen Autobi zu, die sich genau zu der Stunde mit Populus füllen, in der ich sie zu benutzen gedenke.

Andere Subjektivität

Im Autobus – auf der Plattform – stand heute eine von diesen Rotznasen neben mir, wie sie zum Glück heute nicht mehr fabriziert werden, andernfalls würde ich zu guter Letzt eine davon umbringen. Diese jedenfalls, ein Bengel von sechsundzwanzig Jahren, regte mich ganz besonders auf, nicht so sehr wegen ihres großen, gerupften Truthahnhalses als durch die Natur ihres Hutbandes, ein auf eine Art eierfruchtfarbenes Fädchen reduziertes Band. O, der Drecksack! Wie hat der mich angewidert! Da zu dieser Stunde Hochbetrieb im Autobus herrschte, nutzte ich das Gedränge, das beim Ein- und Aussteigen entstand, aus, um ihm meine Ellenbogen kräftig in die Rippen zu stoßen. Doch bevor ich mich dazu entschloß, ihm ein wenig auf die Schweißfüße zu treten, um ihm Beine zu machen, ist der Bursche feige gekniffen. Um ihn zu ärgern, hätte ich ihm auch noch gesagt, daß an seinem zu weit ausgeschnittenen Überzieher ein Knopf fehle.

Weiblich

Was für eine dämliche Bande! Um die Mittagsstunde heute (war das ne Hitze, zum Glück hatte ich mir Odorono unter die Achseln getan, andernfalls wäre mein leichtes Sommerkleidchen aus Kretonne von meiner kleinen Schneiderin, die mir Vorzugspreise macht, beim Teufel gewesen) hält der Autobus am Parc Monceau (dort ist es viel schöner als im Luxembourg, wo ich meinen Sohn hinschicke; was fürn Gedanke, in seinem Alter schon Haarausfall zu haben), er war zwar besetzt, aber ich habe den Schaffner angevampt und bin eingestiegen. Natürlich haben all die Banausen, die ihre Nummern hatten, Krawall geschlagen, aber pah! Der Autobus war weit. Und ich war drin. Er war überfüllt. Ich wurde verdammt gedrückt, und nicht ein einziger Mann im Innern des Wagens, der mir seinen Platz überlassen hätte. Was für Flegel! Neben mir stand ein recht eleganter Mann (es sieht sehr schick aus, eine Kordel um den Filzhut anstelle des Bandes, ADAM hat gewiß über diese Mode gesprochen), aber leider war sein Hals für meinen Geschmack zu lang. Ich habe Freundinnen, die behaupten, es sei ein Beweis besonderer Fähigkeiten auch auf anderem Gebiet, wenn bei einem Mann ein Teil des Körpers größer sei als normal (zum Beispiel eine zu große Nase). Aber ich glaube nichts davon. Auf jeden Fall war dieser gutgekleidete Herr die ganze Zeit über in Bewegung, und ich fragte mich, auf was er wohl warte, um mich anzusprechen oder mir irgendwohin zu fassen. Der ist bestimmt schüchtern, sagte ich mir. Ich hatte nicht ganz unrecht, denn auf einmal interpellierte er einen anderen Bürger, der übrigens einen häßlichen Kopf hatte und ihm absichtlich auf die Füße trat. Wenn ich der junge Mann gewesen wäre, ich hätte dem alten Kacker ins Gesicht geschlagen, aber stattdessen ist er schnell weggegangen, um sich hinzusetzen, sobald er einen freien Platz gesehen hat, und er hat übrigens nicht einen einzigen Augenblick daran gedacht, ihn mir anzubieten. Was man ja im Lande der Galanterie nicht sehen sollte.

Etwas später, als ich an der Gare Saint-Lazare vorüberfuhr (dieses Mal hatte ich einen Sitzplatz), habe ich ihn wiedergesehen. Er diskutierte mit einem Freund (einem recht hübschen Jungen in der Tat) über den Ausschnitt seines Überziehers (eine seltsame Idee, bei einer solchen Hitze einen Mantel anzuziehen, aber das sieht immer angezogen aus). Ich habe ihn angeschaut, aber der Dummkopf hat mich nicht einmal wiedererkannt.

Raymond Queneau, aus: „Stilübungen“
Deutsch von Ludwig Harig und Eugen Helmlé
© Suhrkamp Verlag Frankfurt a. Main 1961
© Gallimard Paris 1947

9 Reaktionen zu “Stilübungen”

  1. Termin am Mittag « Turmsegler

    […] Dass ich Raymond Queneaus “Stilübungen” wiedergefunden habe, freut mich so ungemein, dass ich nicht wiederstehen konnte, auch eine […]

  2. Die Sprachspielerin » Stilübung | Literarischer Blog

    […] Turmsegler hat angesichts seiner Wiederentdeckung der Stilübungen von Raymond Queneau zum Mitmachen aufgefordert, nach folgenden dürren […]

  3. HerrH

    Ich versuch mindestens zwei zu schreiben, eine gibt es schon.

  4. S != 68 (imaginiert) « Turmsegler

    […] Doch was cellini heute in den Dschungeln. Anderswelt schreibt, klang mir spontan wie einer weitere Stilübung auf Queneaus mittägliches Ereignis im Bus S. Wäre es nicht die Linie 68 und würden […]

  5. Textilstrand » Blog Archive

    […] Stein lädt in seinem Turmsegler ein, eine eigene Variante der Bus-Szene aus Raymond Queneaus 101 Stilübungen zu schreiben. Hier […]

  6. P.-s Veranda » Linda, Linda

    […] Benjamin Steins Freude über den wiederentdeckten Queneau verdanken wir heute folgenden Erguss, der Benjamins Einladung zu einer Fingerübung folgt. Ich muss es vorweg nehmen: ich schieße mächtig über das Ziel hinaus, aber mir war gerade etwas nach Unfug, nicht zuletzt, um meine gegenwärtige Stimmung zu kompensieren. Tatsächlich handelt es sich um ein Stück, das automatisch geschrieben wurde. Das heißt, ich habe es in einem Zug heruntergeschrieben, ohne aufzumerken oder etwas daran zu verändern. […]

  7. Beautiful « Turmsegler

    […] in einem Kommentar den Kopf schüttelte über meine Lesepraxis und mir kurz darauf half, Raymond Queneau wiederzufinden, eben jener betreibt ja selbst ein literarisches Weblog. Vor nicht allzu langer Zeit […]

  8. engl @ absurdum » Blog-Archiv » leben und lesen

    […] es gewandert, obwohl das nicht so ganz paßt. trotzdem. da hat es früher schon einmal gewohnt. raymond queneau, stilübungen. über dreißig jahre alt. in der ecke steht noch der name der schulrektorin, die es mir damals […]

  9. engljetzt » Blog-Archiv » leben und lesen

    […] es gewandert, obwohl das nicht so ganz paßt. trotzdem. da hat es früher schon einmal gewohnt. raymond queneau, stilübungen. über dreißig jahre alt. in der ecke steht noch der name der schulrektorin, die es mir damals […]

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