Schmidt liest Proust

28. Oktober 2007

Und selbst, wenn es nicht reicht, Proust zu lesen, um Becketts Proust-Essay zu verstehen, wird man zumindest wissen, was Proust geschrieben hat. Zu wissen, was Proust geschrieben hat, ist sicher das Minimalziel einer Proust-Lektüre. […] Das einzige, was stört, ist die ständig wiederkehrende Zwangsvorstellung, vom Balkon zu springen, mal sieht man sich sitzend, wie im Schwimmbad von der Kante plumpsen, mal wie beim Hochsprung mit einer eleganten Rolle über die Balkonbrüstung hechten.

••• Im Jahr 2006 unternahm Jochen Schmidt den Versuch, Proust zu lesen. Jeden Tag 20 Seiten der „Suche nach der verlorenen Zeit“. In seinem Blog „Schmidt liest Proust“ berichtete er davon. Obiges Zitat ist ein winziger Auszug aus den Reflektionen seiner Lektüre-Erfahrung.

Ganze 180 Tage waren eingeplant. Und allein dieses bewunderungswürdige Blog umreisst ganz klar, was den zweiten Grund ausmacht, warum ich Proust nicht weiterlese. Da ist es einem Autor gelungen, mir auf 67 Seiten so etwas wie den Gipfel einer Prosa-Leseerfahrung zu bescheren. Sein literarischer Rang ist für alle Zeiten mit diesem ersten Kapitel – zumindest für mich – zementiert. Aber das genügt diesem Autor nicht. Er will mir darüber hinaus abverlangen, dass ich mindestens 180 Tage (bei disziplinierter Lektüre von 20 Seiten pro Tag) ausschliesslich mit ihm verbringe, mit seinen ausufernden Beschreibungen, mit seinen Wiederholungen, mit seiner unerträglichen Perfektion des Schreibens. Er will mir 180 Tage meines Lebens nehmen und im Tausch dafür seines geben. Aber ich will es nicht haben.

Das – sage ich – geht zu weit. Was lese und lebe ich alles nicht in dieser Zeit? Sind wir verheiratet oder verwandt, dass man mir diese intime Nähe einer Biographie über einen so langen Zeitraum zumutet? Mein Interesse an den Dingen, die er gesehen hat und wieder- und wiederkäut, kann unmöglich so gross sein wie seines. Aber er erspart mir nichts. Er breitet alles aus bis zum Letzten und rückt noch den unbedeutendsten Augenblick unters Elektronenmikroskop.

Als Film gedacht, wäre die Recherche ein Epos von 72 Stunden, eine Zumutung, eine Frechheit – zumal bei einem Autor, der gleich zum Auftakt beweist, dass er in zwei Absätzen die Welt einfangen kann. Wenn er sich also ausbreitet auf tausenden Seiten, dann nur, um mich zu zwingen, Zeit, viel Zeit mit ihm zu verbringen und währenddessen ohne Unterlass auf mich einzureden. Ein Zeitdieb.

Aber ja doch, ich werde Proust immer wieder einmal zur Hand nehmen. Ich werde irgendeinen der 10 Bände aus dem Schuber nehmen und zu lesen beginnen. Und ich werde ein paar Tage mit Proust verbringen. Aber wie Jochen Schmidt werde ich mich diesem Egozentriker nicht ausliefern. Ich werde ihm ab und an ein wenig meiner Zeit zuteilen. Bestehlen lasse ich mich von ihm nicht.

16 Reaktionen zu “Schmidt liest Proust”

  1. Andrew Shields

    A paraphrase: to search for Proust’s lost time with him is to lose one’s own time.

  2. Benjamin Stein

    You nailed it…

  3. @miro

    Bestehlen lasse ich mich von ihm nicht.

    …und das ist gut so. Sehr gut!

    LG
    @miro

  4. Andrew Shields

    I should add that I really enjoyed reading Proust. There’s a special narcotic effect about his work that I have never found anywhere else—it’s as if the writing is putting you to sleep, even if it is not actually putting you to sleep. A dreamy alertness, or an alert dreaminess, as it were.

    That said, I should also add that I only read volume one! :-)

  5. Benjamin Stein

    here’s a special narcotic effect about his work …

    Exactly. You dive into the Recherche swim around and when you come up again three days are gone :-)

    That said, I should also add that I only read volume one! :-)

    At least I’m not the only one who gave up on him.

  6. Andrew Shields

    I did not finish „Ulysses“ either, and my not finishing it was quite silly, as I read all but the last chapter!

  7. Benjamin Stein

    I did not finish “Ulysses” either…

    Wait, I’ll write about „Ulysses“ next week. My „Ulysses“ experience is totally different from my Proust experience.

  8. czz

    was ist nun , wenn wir „Schmidt liest Proust“ bloggend läsen : müssten wir dann nicht auch notieren , dass Schmidts interesse an den Proust’schen feinteiligkeiten ab phase „Balbeck II“ erlahmt ?

    unser pegelstand hält derzeit bei der „Gefangenen“ , für welche sich JS herzlich wenig engagiert – – –

  9. Benjamin Stein

    Sehr kryptischer Kommentar zu einem lange zurück liegenden Beitrag. Ich habe nicht das komplette Schmidt-Blog nachgelesen. Dass die Euphorie erlahmt an irgendeiner Stelle, hätte mich nun auch nicht verwundert. Ich hatte den Eindruck, Schmidt betrachtete das Unternehmen auch unter einem gewissen sportlichen Aspekt (Spekulation!), da er sich so strenge Seitenvorgaben pro Tag machte.

  10. Benjamin Stein

    Eben lese ich nochmals den ganzen Beitrag oben und freue mich diebisch: Ja, Zeitdieb, Egozentriker, verdammter!

  11. czz

    der kommentar erscheint angesichts der eben herausgekommenen buchausgabe eventuell weniger kryptisch : denn mit „Schmidt liest Proust“ ist ja wiederum ein beachtlicher ziegel entstanden .

    das plausiblel „sportlich“ getaktete „20- seiten- pro- tag„- training könnte allerdings auch an die „reading asignments“ an anglo- amerikanischen colleges erinnern . dort hiess es : „Henry James , Portrait of A Lady , p. 235 – 325″ . dies allerdings in etwa täglich .

  12. Benjamin Stein

    Haben Sie denn den „Ziegel“ gelesen? Immerhin bekäme man so einen Überblick über das gesamte Opus… Oder nicht?

  13. czz

    na , es scheint auch hier das „ziegelgesetz“ zu gelten : nach zwei dritteln der wegstrecke erlahmt’s – nur weiss ich nicht, ob dies eher zutrifft fürs pferd oder dessen reiter –

    am literarischen und werk- charakter dieses blog- und tage-weise entstandenen gesamttextes besteht allerdings kein zweifel . freilich hat sich der autor das recht herausgenommen , manche stellen zu überarbeiten .

    trotzdem ergeben sich interessante diachrone veränderungen im verlauf – jeweils aber auch das leise inhärente synchrone sparring zwischen den einleitenden bemerkungen zum RL , tagesverfassung , liebesleben und dem referierten text ( Proust ) .

    eine scheinbar entspannt auf den punkt gebrachte prosa : zu recht ist der verlag stolz auf sein jüngstes renommiertprojekt – – –

  14. Benjamin Stein

    Herzlichen Dank für die Zusammenfassung.

  15. czz

    … entstand aus einem schieren lesefehler :

    sah den hinweis auf [ das blog ] „Schmidt liest Proust“ ( 2007 ) , nahm’s indes für [ das buch ] „Schmidt liest Proust“ ( 2008 ) –

    … eine für Sie hoffentlich nicht allzu lästige Freud’sche fehlleistung – – –

  16. Benjamin Stein

    »Lästige Kommentare« lesen sich ganz anders. Keine Sorge.

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