Combray

26. Oktober 2007

Marcel Proust mit 16 Jahren

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: ‚Jetzt schlafe ich ein.‘

Marcel Proust

••• Das obige Bild beschreibt ganz wunderbar mein persönliches Verhältnis zu Marcel Proust. Unter den besagten wichtigen Büchern, bei denen ich von meinem Recht als Leser, nicht zu Ende zu lesen, Gebrauch gemacht habe, ist „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ vielleicht das wichtigste.

Das Lesezeichen im ersten Buch meiner 10bändigen Recherche-Ausgabe bezeugt, mit welcher unendlichen Langsamkeit ich Proust bislang gelesen habe. Es ist gut möglich, dass ich nie fertig werde. Vielleicht will ich das auch gar nicht. Ich bin bis zwei Seiten vor Schluss des ersten Teils vorgedrungen, der den Titel „Combray“ und die Aura von Kindheit trägt. Und grad weil ich noch immer nicht weitergelesen habe, ist Marcel Proust für mich noch immer ein Junge – ganz wie oben auf dem Foto. Er weigert sich, erwachsen zu werden und von den noch folgenden tausenden Seiten Prosa etwas preiszugeben.

Zwei Gründe gibt es, warum es so gekommen ist. Den ersten will ich heute entschleiern. Schuld waren die ersten Sätze und der letzte Absatz dieses ersten Kapitels „Combray“. Sie sind bei mir wie Blitze eingeschlagen. Über den zweiten Grund werde ich noch schreiben. Aber jetzt, jetzt setze ich mich erst einmal hin und lese noch einmal den Schluss des ersten Kapitels, nach dessen erster Lektüre ich Proust für mindestens zwei Jahre nicht wieder in die Hand genommen habe, weil es mir schlicht so vorkam, als hätte er mir dort, an jener Stelle auf Seite 67, bereits alles Berichtenswerte berichtet.

 

Und dann mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging) sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick jener Madeleine hatte mir nichts gesagt, bevor ich davon gekostet hatte; vielleicht kam das daher, daß ich dies Gebäck, ohne davon zu essen, oft auf den Tischen der Bäcker gesehen hatte und daß dadurch sein Bild sich von jenen Tagen in Combray losgelöst und mit anderen, späteren verbunden hatte; vielleicht auch daher, daß von jenen so lange aus dem Gedächtnis entschwundenen Erinnerungen nichts mehr da war, alles sich in nichts aufgelöst hatte: die Formen – darunter auch die dieser kleinen Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt unter ihrem strengen, frommen Faltenkleid – waren versunken oder sie hatten, in tiefen Schlummer versenkt, jenen Auftrieb verloren, durch den sie ins Bewußtsein hätten steigen können. Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermeßliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.

Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte (obgleich ich noch immer nicht wußte und auch erst späterhin würde ergründen können, weshalb die Erinnerung mich so glücklich machte) trat das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu, der für meine Eltern nach hintenheraus angebaut worden war (also zu jenem verstümmelten Teilbild, das ich bislang allein vor mir gesehen hatte) und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.

Marcel Proust
aus: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Deutsch von Eva Rechel-Mertens
© Suhrkamp Verlag 1953

5 Reaktionen zu “Combray”

  1. Herr H

    das ist einer der wunderbarsten Stellen die man in der Literatur finden kann, eine die das Glück beschreibt, die alles beschreibt und Du liest nicht weiter.

    Dabei kommen die grandiosen Sätze überhaupt nicht zum stehen.

    Diesen wunderbaren Proust muss man allen Dichtern ans Herz legen, weil man ihn nötig hat, selbst wenn man davon noch gar nichts weiß.

  2. Benjamin Stein

    Wie herzlos, nicht wahr?

  3. Die Wellen « Turmsegler

    […] Virginia Woolf hat Marcel Prousts “Suche nach der verlorenen Zeit” mit unerschütterter Begeisterung gelesen. Die Begeisterung ging so weit, dass sie für […]

  4. Mrs Dalloway in der Bond Street « Turmsegler

    […] finde ich die Reminiszenzen sowohl an Prousts “Verlorene Zeit” als auch an Joyces “Ulysses”. Belegen kann ich freilich nicht, ob diese Anklänge […]

  5. Sealed with a Taste « Turmsegler

    […] steigt bei dieser Heldin die Erinnerung auf. So hatte ich – da ich gerade im Urlaub ein gutes Stück Proust gelesen habe – die vage Hoffnung, Monique würde vielleicht etwas über die in […]

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