Die folgende Geschichte

19. Oktober 2007

Keiner der anderen wird meine Geschichte hören, keiner von ihnen wird sehen, daß die Frau, die da sitzt und auf mich wartet, das Gesicht meiner allerliebsten Kriton hat, des Mädchens, das meine Schülerin war, so jung, daß man mit ihr über die Unsterblichkeit sprechen konnte. Und dann erzählte ich ihr, dann erzählte ich dir Die folgende Geschichte

Cees Nooteboom, aus: „Die folgende Geschichte“

••• Ich habe manche Angewohnheiten, die die Herzdame – wenn nicht grad scheusslich – so doch zumindest unpassend findet. Öffentlich beichtbar ist folgende: Bücher lese ich immer von hinten, die letzte Seite zuerst und dann die erste. Wenn eine(r) einen guten Abschluss hinbekommt und einen guten Beginn, lässt das hoffen. (Erinnern wir uns kurz an Primo Levis nicht gehaltene Poetik-Vorlesung…) Einmal zumindest bin ich einem Autor – Cees Nooteboom – dabei in die Falle gegangen.

„Die folgende Geschichte“ endet, wo sie beginnt oder beginnt an ihrem Ende. Worum es geht, kann man unter anderem » hier nachlesen.

17 Reaktionen zu “Die folgende Geschichte”

  1. andreas louis

    WINDMASCHINE. Einmal ein Buch konstruieren, das rund ist, ein Buch, dessen Seiten so gebunden sind, dass sie einen Zylinder ergeben. Man könnte Geschichten in diesem Buch derart anordnen, dass sie, wie in einem Gewässer Strömungen, kaum merklich ineinander fließen, sagen wir fünftausend kleinste Geschichten auf 2500 Seiten, geschrieben ohne Absatz und ohne eine Seitenangabe. Man steigt irgendwo zu und liest und solange man darauf verzichtet, mit einem Bleistift Zeichen zu setzen, wird man den Eindruck einer Erinnerung nicht los, wird man meinen, schon einmal da und dort gewesen zu sein. – notiz 2.09.2007

    ;-)

  2. Benjamin Stein

    Nun, wenn auch nicht an einen Zylinder gedacht und sicher nicht auf 2.500 Seiten (Du scheinst eine sadistische Ader zu haben… *g) Ein wenig war dies meine Intention beim Blau. Ein Buch, das man von vorn nach hinten lesen aber ebensogut auch irgendwo aufschlagen kann. Einfach loslesen, sich ein paar Seiten tragen lassen, woandershin blättern – etc.

  3. andreas louis

    Ich denke, 2500 Seiten werden auf längere Sicht nicht genügen, um ein menschliches Gehirn dauerhaft in einer irritierenden, lustvollen Balance von Überraschung und Wiedererkennen zu halten. Blau ist, meiner Ansicht nach, ein klassischer Hypertext, ein mehrstimmiger Körper, der eben nur in elektrischen Räumen sich entwickeln kann. Dein Ansatz ist überzeugend.

  4. Benjamin Stein

    Ich halte es für einen Irrtum, dass ein einzelner Autor mit einem einzelnen Werk einen Menschen über 2.500 Seiten in irritierender, lustvoller Balance halten kann. Das zu unternehmen, kommt mir schon als Unerhörtheit vor. Der Leser hat ein Recht, nach ein paar Stunden mit uns sich wieder anderen Büchern, Erfahrungen, Leben zuzuwenden. Unternehmungen wie die „Recherche“ erscheinen mir deswegegen zumindest heute als nah am Obszönen.

    Blau ist, meiner Ansicht nach, ein klassischer Hypertext, ein mehrstimmiger Körper, der eben nur in elektrischen Räumen sich entwickeln kann.

    Das verstehe ich nicht. Es ist immer als Drucktext konzipiert gewesen. Querbezüge werden nicht hergestellt; und die Verlinkungen aus Blau-Passagen auf Texte, die möglicherweise referenziert werden oder inspirierten, habe ich auch nicht gesetzt. Kannst Du das vielleicht näher erklären?

  5. andreas louis

    Lieber Benjamin Stein, die Vorstellung eines Buches von 2500 Seiten in der Gestalt eines Zylinders, ein Buch, das sich vielleicht unablässig im Wind drehen könnte, sobald man zurücktritt, also den Text mit Händen und Augen verlässt, sodass man nicht wieder leicht und selbstverständlich an ein und denselben Ort zurückkehren könnte, – das ist natürlich ein Spiel, ein Gedankenspiel. Ich hätte sehr gerne so ein sich drehendes Buch, zum Beispiel von Alexander Kluge aufgeschrieben. Tausende kleiner Geschichten. Und es dreht sich und dreht sich und dreht sich. Und manchmal komme ich am sich drehenden Buch vorbei und halte es an und steige kurz ein und lese, und manchmal werde ich nicht nicht ganz sicher sein und denken, dass ich die gerade gelesene Geschichte schon einmal wahrgenommen habe oder selbst erlebt. Einen Text, der sich, natürlich extrem zurückgenommen, wie ein Windtext oder eine Flüssigkeit benimmt, könntest Du, wenn Du möchtest, hier besichtigen : particles. – Und nun zu Deinem Projekt Ein anderes Blau. Ich habe dieses Blau als einen Hypertext wahrgenommen, weil ich Dein Blau eben nicht als lineraren Text in Zeichensprache auf Papier wahrnehmen kann, sondern verschiedene Eingänge oder besser -Wahrnehmungsmöglichkeiten vorfinde in der Elektrospäre. Ich kann lesen : Zeichen, und ich kann hören : die Stimme des Autors und Musik. Und wenn ich das richtig verstanden habe, sind ausserdem auf verschiedenen Servern, also in Projekten anderer Autorenrinnen und Autoren Schlüssel versteckt, so dass sich dorthin weitere Linien eröffnen. Ja, so meine Rezeption. Das war lang. Jetzt genug. Ich grüße zu Dir in meine schöne Heimatstadt.

  6. HerrH

    so schön soll München also sein, dass man aus ihr grüssen muss, meine Lieblingsstadt ist im Moment Frankfurt, weil sie weiß wie man verliert und wie man flüstert, haben sie schon mal im Bankenviertel gestanden und dem Geraschel des Windes gelauscht? Aber was ist Frankfurt schon gegen Wien und was Wien gegen Budapest und Budapest ist nichts gegen Sarajevo und an Sarajevo kleben die Dinge wie Schatten, die ganz vergessen woher sie kommen.

    Wir lieben die Kleinigkeiten, wir lieben die Schritte die uns abhanden kommen, alles was wir tun, kann ein Ereignis sein und gewiss darf man nicht aufhören Seiten zu zählen, aber die Zahl kann man wieder vergessen, weil sie ohne Bedeutung ist, wenn ich Cervantes traurigen Ritter lese, habe ich nicht das Gefühl tausend Seiten gelesen zu haben, sondern ich habe ein Gefühl wie man Niederlagen in einen Gewinn umwandeln kann und das ist das wunderbare an Literatur, dass sie es schafft uns Dinge näher zu bringen, die wir bereits schon kennen, die wir aber erst mögen, wenn wir darüber lesen

  7. hab

    drehende, kreisende bücher: als theoretische bzw. als bibliotheksform (wenn man eine bibliothek sich als buch denken mag) hat sich das markus schon vor einiger zeit mit seiner bibliothek von wergenstein ausgedacht. das nur am rande …

  8. HerrH

    na ja die idee ist nichts neues, das hat danilo kis auch gemacht, allerdings auf hohen niveau

  9. hab

    ist ja interessant. und: wusste ich noch gar nicht. gibts dazu auch eine bibliographische angabe?

  10. HerrH

    Mehr dazu » hier.

    er ist im selben Jahr wie Beckett und Bernhard gestorben, was für ein trauriges Jahr….und das Buch welches ich meine heißt Enzyklopädie der Toten.

    Elfriede Jelinek bezog sich in ihrer BüchnerPreisRede darauf, die Rede ist sehr zu empfehlen.

  11. hab

    auch eine fiktive bibliothek (wie man nun schon auf zig andere zeigen kann). trotzdem danke für den hinweis. sehe nur noch nicht den zusammenhang mit der wergensteinschen bibliothek, die sich schon rein physisch anders ausnimmt – bei allem, was ich dazu gefunden habe. zur idee dahinter: dass der theoretische leseakt den tatsächlichen und der tatsächliche immer zwangsLÄUFIG den theoretischen nachzeichnen muss, dies aufgrund der räumlichen anordnung – der hermeneutische zirkel als eigentliche pointe des textes … darauf finde ich keinen hinweis. muss da über die bücher …

  12. HerrH

    man kann so einen Roman auch einfach lesen, dann kommt man schon dahinter, die Idee ist dass es irgendwo in den USA einen Ort gibt, in dem von jedem Menschen eine kleine Abhandlung steht..

    wie man nun schon auf zig andere zeigen kann.

    ich glaube nicht dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt der wie Kis schreiben kann.

  13. hab

    naja. lesen sie. und glauben sie. mich interessiert hier in diesem speziellen fall eher die vielfalt der modelle.

  14. HerrH

    Die Frau hat einfach zu viele Preise eingeheimst, jedenfalls ist es nicht die BüchnerRede in der sie Kis erwähnt

  15. ANH

    nah am Obszönen

    Das kann ich, da ich gerade >>>> Marianne Fritz wiederlese, g a r nicht nachempfinden. Der Leser hat doch auch das Recht darauf, einen Überblick n i c h t zu bekommen, und zwar prinzipiell. Er hat doch das Recht zu erfahren, daß es Bereiche gibt, die seinem Geist schon aus Zeitgründen auf ewig unbekannt bleiben werden – und er hat das Recht zu spüren, daß, wozu er sich notgedrungenermaßen entscheidet, er sich entscheiden m u ß, daß er da keine Wahl hat, auch wenn mehreres zugleich noch so sehr lockt… er hat das Recht, zum Beispiel, auf den Genuß verzichten zu müssen, den ihm ein Werk schenken kann, in das er eintaucht. Er hat das Recht auf viel Schmerz.

    Ich, meinerseits, habe es bis heute nicht geschafft, ZETTELS TRAUM zu lesen; aber das Buch liegt seit Jahren auf meinem Arbeitstisch, und bisweilen schau ich hinein. Dafür las ich halt Fritz…

    Ich bin dankbar darüber, daß es unendlich dicke Romane gibt; dankbar dafür, daß man in ihnen zum Entdecker werden kann auf weißen Landkarten, die sich kartographisch jedenfalls nicht von mir füllen lassen werden. Aber die Ahnung verströmen: Da ist noch mehr, noch mehr, v i e l mehr…

  16. Benjamin Stein

    @ANH: Dass Sie auf diese Bemerkung hin sich melden, überrascht mich nicht. Ich werde – wie angekündigt – in den nächsten Tagen mehr dazu schreiben.

  17. ANH

    Und ich habe eben, >>>> dort um 8.48 Uhr, meiner Haltung noch einmal Fleisch gegeben.

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