Mokusei!

18. Oktober 2007

Cees Nooteboom: Mukosei!••• Nachdem ich mich mit Nootebooms „Ritualen“ nicht recht anfreunden konnte, hat er mich mit zwei anderen Büchern später dennoch ganz und gar für sich gewonnen. Das eine davon: Mokusei!

Ein holländischer Fotograf wird nach Japan geschickt, um für Reiseprospekte Aufnahmen vom Fuji zu machen, im Vordergrund eine Japanerin in verschiedene Kimonos gekleidet. Satoko, die er Schneemaske nennen wird und in die er sich verliebt, wird ihm als Modell vermittelt. Sie führt ihn zum Fuji; und eine leise, doch deswegen keineswegs weniger intensive Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf. Eine Geschichte von Fremdheit, die auch in der Liebe unüberbrückbar bleibt.

Ganze 75 gross bedruckte Seiten sind das, intensive, unprätentiöse Prosa, die sehr berührt. Eine einfache Geschichte, eine ehrliche Geschichte.

Ein solches Stück Kammermusik würde ich in meinem Leben gern noch schreiben. Das wäre genug.

 

Dieser letzte Tag wurde ein Abbild des allerersten. Die Zeit zwischen diesen beiden Tagen, all die Sehnsüchte, Briefe, Erklärungen, Liebesnächte, all diese pathetischen Telefongespräche über die grauen Steppen Sibiriens hinweg verflüchtigten sich und lösten sich in dem einen Moment auf, da er, den ewigen Berg noch immer in der Ferne vor sich, die Fotos machte, die er fünf Jahre zuvor schon einmal gemacht hatte. Selbst auf den Abzügen war später nicht zu erkennen, daß die Frau, die da stand, fünf Jahre älter geworden war, und von dem heiligen Berg konnte man das schon gar nicht sagen. Dieselbe Frau, derselbe Fotograf, derselbe Herbsttag, dasselbe Gasthaus, derselbe Duft des Mokusei. Das Leben als Erinnerung: die samisen, das Wasserrad, die Fackeln, das Mädchen, das ihnen voranging. Wieder wollte er, genau wie damals, weggehen, um einen Spaziergang zu machen. Mit einer Handbewegung hielt sie ihn auf. Sie zog ihn neben sich auf die tatami, kleidete ihn aus, kleidete sich aus. Nie zuvor war sie diejenige gewesen, die die Initiative ergriff. Nackt lagen sie auf der Matte neben dem niedrigen Tisch. Dies ist, dachte er, eher Krieg als etwas anderes. Wut war in ihre Liebe gemischt, eine Wut, die der seinen entsprach. Beißen, Verschlingen, in den anderen ein für allemal eindringen, ihn auffressen, mitnehmen, dieses ganze hoffnungslose Unterfangen von Menschen, die in den anderen eingehen wollen, eins sein wollen und nicht können, immer wieder gezwungen werden, auseinanderzugehen, loszulassen, leere Zimmer hinter sich sammelnd, in denen Gesten und Worte, die verstümmelte Sprache nie beendeter Sätze zwischen den teilnahmslosen Dingen verfliegen müssen, die auf die nächsten Gäste warten oder nicht warten, die einfach da sind. Er fühlte sich wie einer, der eine unendlich weite Strecke zu schwimmen hat und auf der Hälfte ist, zu weit, um umzukehren, und zu weit, um den Weg fortzusetzen. Als sie endlich losließ, sich abwandte, umdrehte, das Gesicht im feinen Schilf der tatami barg, als ihr ganzer Körper wieder zu einer verschlossenen, uneinnehmbaren Festung geworden war, ein Gegenstand, mit dem er nichts mehr zu tun hatte, stand er auf, zog sich an und ging hinaus. Eine zwergenhafte alte Frau, tief gebeugt unter der Last aufgelesener Zweige, kam ihm als schlechtes Omen entgegen. Zweige, Feuer, Asche. Der Bach rauschte, und wer hätte er sein müssen, um ein anderes Geräusch zu hören als damals? Weiter ging er nun als beim ersten Mal. Auf der nassen Erde des kleinen Wegs sah er die flaumige Haut einer Nuß, zertreten, zermalmt. Alle Dinge schienen nun eine Bedeutung anzunehmen, die Verfärbungen im letzten Grün, das er noch erkennen konnte, die Schimmelpilze an einem Baum, schwarze, feuchte Flecken in einer Birkenrinde, alles wollte ihm etwas sagen. Ab und zu blieb er stehen, registrierte den schnellen Fluß des Wassers über einen schimmernden schwarzen Stein. Es schien, als zählte er etwas, aber er wußte nicht, was. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätte er jetzt nicht fotografieren wollen: Dies sollte nun nicht bewahrt werden, dies war für ihn und nur für ihn allein. Er nahm einen Weg hinauf, in die Dunkelheit hinein, schritt über dicke, glatte Bambusstöcke, die als Steg über den Fluß gelegt waren, lauschte dem Gurgeln und Gluckern des Wassers. Welche entschwundenen Füße hatten diesen Weg ausgetreten, hatten Natur aus ihm gemacht? Unter der Wasseroberfläche schien der Grund selbst zu fließen. Irgendwo lag ein Stoß Holzblöcke, eine feste, dunkle Form, als wären sie zusammengewachsen. Vor hundert Jahren war hier ein Holzfäller gewesen, der sie für den nächsten Tag bereitgelegt hatte, aber er war nie mehr zurückgekommen. Mokusei. Er hörte sich selbst ihren Namen laut sagen und blieb stehen. Dies also war Angst, was er jetzt empfand. Etwas Unwiderrufliches geschah mit ihm. Er drehte sich um. Aus der Richtung, aus der er gekommen war, kam Nebel auf, losgerissene, schwebende Gestalten, die es auf ihn abgesehen hatten, ihn einzukreisen, einzuhüllen, ihn an diesem Holzstoß gefangenzuhalten, hundert Jahre, tausend Jahre, für immer.

Als er keuchend und verschrammt und noch immer von Nebelschwaden verfolgt, rennend und stolpernd zum Gasthaus zurückgekehrt war, sah er ihr Auto nicht mehr. Von den Gesichtern des Personals war nichts abzulesen. Er ging in ihr Zimmer und schob die Tür auf. Auf dem Tisch stand nur eine Reisschale. Zum zweitenmal an diesem Abend hörte er sich ihren Namen sagen, obwohl sie nicht da war. Mokusei. Er zog die Schuhe aus, ging hinein und hockte sich an den Tisch. Jetzt mußte er sich der Trauer stellen, die er zeit seines Lebens, auch wenn es lange dauern sollte, nie wieder würde abschütteln können. Sie würde vergehen, wie alles, aber er würde nie das Gefühl loswerden, daß er selbst es war, der verging

© Cees Nooteboom (1982), aus: „Mokusei!“
© Suhrkamp Verlag 1990
Übertragung: Helga van Beuningen

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>