Orakel Nummer April eins

2. Oktober 2007

… und unsere eigenen Traurigkeiten werden wir nicht mehr alleine ertragen müssen, in den Gefahren der Novembernachmittage, an einem Fenster. Stoßen wir an auf deine verfrühte Ankunft, Liebste; alles bewegt sich wieder.

••• Hans-Eckardt Wenzel, von dem ich letztens ein Gedicht aus seinem Band „Antrag auf Verlängerung des Monats August“ brachte, dieser Hans-Eckardt Wenzel hat mich beim Wiederlesen nach vielen Jahren wirklich angenehm überrascht, ja sogar begeistert.

Seine Lyrik scheint mir – und das meine ich keineswegs abwertend – durch und durch DDR-Dichtung. Natürlich jenseits der Propagandareime! Optimismus und Utopie begegnen einem, wenn auch der Band – Wenzel merkt es selbst an – von Melancholie durchzogen ist. Und es hat auch: eine ungeheure Menge Welt. Aus intimen Momenten spinnt Wenzel seine poetischen Fäden in die zeitliche und räumliche Ferne. Das erinnert mich an manches aus den Lyrikwerkstätten der frühen achtziger Jahre.

Ich kann den Band – wenn er sich noch auftreiben lässt – nur empfehlen. Wenzel ist vielseitig – in den Themen wie in den Formen. Ein Beispiel hierfür sind die beiden Prosagedichte aus dem erwähnten Band: Orakel Nummer April (eins und zwei). Die poetischen Kurzstücke der Piratin kamen mir in den Sinn, aber auch das von mir erst spät entdeckte Prosagedicht „Die Nacht des Soldaten“ von Pablo Neruda.

 

Alles bewegte sich wieder, Sprosser und Kuckuck noch fehlten; meine Füße im Wald, als ich allein Acht Zehn Uhr Rehe beim Fressen beobachtete, dieser Gedanke, daß du, morgen erwartet, heute schon kämst; schon wollt ich dich abholen (die letzten Meter zu diesem Ort sind von der Infrastruktur vernachlässigt worden), ich wollte losfahren, glaubte mir aber nicht (Entzugserscheinungen, was sonst). Beim Abendbrot, allein, zwischen zur Seite geschobenen Blättern: woher diese sture Gewißheit? gegen mein Wissen, daß du gar keine Zeit hast, heute. Als du, wenig später anklopftest an meine Tür und Überraschung sagtest, und daß du Acht Zehn Uhr auf dem Bahnhof, ohne Bedeutung, nichts abgemacht, aber irgend so ein Gedanke, erinnerte ich mich daran, daß meine Großmutter mir erzählte, an einem Abend im Jahr Zwei und Vierzig hörte sie auf der Straße Rufe, sie glaubte, ihr Sohn Hubert käme auf Urlaub von der Front, warf den Bademantel über und schlich sich, den Mann nicht zu wecken, lautlos aus dem Schlafzimmer auf die leere Straße. Sie hätte, sagte sie später, nicht mehr einschlafen können. Als die Nachricht kam, daß ihr Sohn an jenem Abend, als sie im Bademantel auf der Straße ihn suchte, östlich von Deutschland auf eine Mine getreten war und zerrissen wurde, erschrak sie nachträglich über die Gewißheit jenes Abends, als sie seine Stimme von der Straße zu hören glaubte. Beim Feiern deiner Ankunft, während Regulus, der Stern meines Zeichens, überm Dorf sein Licht einschaltete, durchzuckte mich eine plötzliche Zuversicht betreffs der Zukunft unserer Sinne. Werden sie vielleicht doch einmal nach allen verfeinerten Spezialisierungen der Zivilisation, dachte ich, diese in Tausende Bilder und Fakten zersplitterte Welt begreifen können, anschaubar machen, was unseren jetzigen Augen noch versagt ist, sehen? Vielleicht, in den späteren Berichten Homers, wird Penelope, während sie mit dem verkabelten Computer erfolglos nach ihrem Liebsten fahndet, die Freier trotzdem aus dem Haus jagen, nicht aus starrsinniger Treue. Ja, wahrhaft, voller Aufregung erwarte ich diese unbekannten Wahrheiten, die nicht mehr im Ornat der Zauberer und Hexen, der Okkultisten, Spiritualisten und Astrologen daherkommen werden, wie ein Privileg ohne Vernunft. Nein, ich erwarte die Wahrheit in ihrer Grazie, voller Muskel und Sonne, als eine erwachte Möglichkeit unserer geschärften Gehirne, einen neuen Sinn, der Bioströme und Gravitationskräfte der Gestirne wahrnehmen kann — analysieren, entschlüsseln, anwenden — unsichtbare Glasfiberkabel über die ganze Erde gestreckt, die eine nie dagewesene Solidarität erzeugen. Wir werden die Freuden und Schmerzen der anderen, als wären es unsere eigenen, erleben, und unsere eigenen Traurigkeiten werden wir nicht mehr alleine ertragen müssen, in den Gefahren der Novembernachmittage, an einem Fenster. Stoßen wir an auf deine verfrühte Ankunft, Liebste; alles bewegt sich wieder.

Hans-Eckardt Wenzel, aus:
„Antrag auf Verlängerung des Monats August“ (Gedichte)
© Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1986

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