Geschwindigkeitskontrolle

26. September 2007

Tachometer

Ich spreche zu schnell. Ich verschlinge
Die Mahlzeiten. Auch die Zahl
Am Tachometer ist ungesetzlich. Ich bin
Ein schlechtes Beispiel. Ich lebe gern.

Um Verzeihung bitt ich für meine Hast,
Wenn die Schwalben aufbrechen oder Freunde
Verdächtigt werden, um Vergebung
Bitt ich euch für all die Niederlagen,
Die sich mit mir zu Tisch setzen,
Für die Verzweiflung über uralte Geschichten,
Die ich in zwei Minuten aufklären möchte.

Ich selbst bin vielleicht gar nicht fähig,
Jemals anders zu denken, als ich
Denke. Vielleicht verhindert meine
Angestrengte Anteilnahme, die über den
Globus hetzt, jene Leichtigkeit
Besserer Zeiten. Vielleicht.

Aber ich lebe gern. Leidenschaftlich
Paff ich Zigaretten, trinke Alkohol,
Schlafe kurz und schlecht, wie ein
Vom Jahrhundert Gejagter, der
Autobahnabfahrten verwechselt, der
Kinder in Nächten voller Heimweh
Zeugt und vergißt, der nicht
Danach trachtet, seine Feinde
Zu überleben. Ich bin ein schlechtes Beispiel.

Ich weiß nicht, ist dabei von Belang:
In meinen Fingern, das Morsen
Fernster Stationen, unaufhörlich
Dieser Rhythmus, der meine Zeit
Kleinhackt in winzige Einheiten;
Oder die telepathische Sehergabe
Beim Abzählen der Sekunden, Sekunden,
In denen ein Mensch stirbt.

Vielleicht ist das normal, und nur
Meine Unrast und irgendwas mit Europa
Ist daran schuld. Aber ich lebe gern.

Ich möchte doch erklären, warum ich,
Zappelnd in einer Geschwindigkeitsfalle,
Mehr gewußt als getan habe, tun konnte.
Warum denke ich so oft in der Einzahl?

Wie hektisch ich zum Beispiel die Zeitung
Umblättere, verrät mich eindeutig.
Selbst zur Verzweiflung lass ich mir kaum
Zeit. Ich muß noch zu viel erledigen.

Zu wenige Sekunden, in denen mein Glück
Nicht blind war oder überfüttert, bleiben mir.
Vielleicht im Frühjahr der Moment,
Wenn ich über die Bäume staune, wenn
Die junge Katze den Füller vom Tisch wirft,
Wenn die Luft nach Regen schmeckt, wenn
In Nicaragua die Ernte gut wird, wenn
Ein fester Pilz die ganze Küche
Mit seinem Geruch füllt.

Hans-Eckardt Wenzel, aus:
„Antrag auf Verlängerung des Monats August“ (Gedichte)
© Mitteldeutscher Verlag Halle • Leipzig 1986

••• In Anbetracht der Wetterlage (ich bin ja wirklich kein Freund der kühleren Jahreszeiten) wollte ich heute einen „Antrag auf Verlängerung des Monats August“ stellen, wie es Hans-Eckardt Wenzel im Titelgedicht seines oben zitierten Bandes tat.

Sein Antrag, das war ein in der DDR sehr bekanntes Gedicht. Doch als ich das Buch heute aus dem Regal nahm, um das Gedicht zu verturmsegeln, da fiel mir auf, dass ich mich offenbar nur noch an den Titel wirklich erinnerte. Denn Wenzel hatte ganz andere, sehr politische Gründe, den Monat August verlängern zu wollen.

Besagtes Gedicht werde ich nachreichen. Beim Blättern in Wenzels Band haben mich heute die oben zitierten Zeilen viel mehr berührt. Wie vertraut kommt mir diese Beschreibung des Gehetztseins vor…

Pause. Schabbat und die Feiertage des Laubhüttenfestes, das heute abend beginnt – das sind Geschwindigkeitskontrollen für mich, verkehrsberuhigende Massnahmen. Die Maschinen werden abgestellt, nun zumindest heruntergetourt. Die kommenden zehn Tage habe ich Urlaub. Und den brauche ich auch.

Ist nicht überhaupt der Augenblick des Innehaltens auch jener, in dem Dichtung entstehen kann? Oder in dem sie sich darüber klar werden kann, ob sie überhaupt entstehen möchte…

Eine Reaktion zu “Geschwindigkeitskontrolle”

  1. Orakel Nummer April eins « Turmsegler

    […] Hans-Eckardt Wenzel, von dem ich letztens ein Gedicht aus seinem Band “Antrag auf Verlängerung des Monats August” brachte, dieser Hans-Eckardt Wenzel hat mich beim Wiederlesen nach vielen Jahren wirklich angenehm […]

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