Auge um Auge

30. Juli 2007

••• Eine Unwahrheit ein ums andere Mal zu wiederholen, macht sie deswegen nicht wahr. Wiederholung allerdings eignet sich gut, um Unwahrheiten so gründlich in die Gehirne zu waschen, dass sie wie selbstverständlich ins Allgemeinverständnis eingehen. Und das trifft nicht nur auf die „vox populi“ zu – nein, die vermeintliche Intelligenzija ist ebenso betroffen.

In einem übrigens hochspannenden Artikel im aktuellen „Spiegel“, über den ich gern noch berichten will, kann man einen guten Beleg für diese These finden. Das liest sich so:

Auge um Auge – im biblischen Israel galt Rache als absolut legitim. Bis weit ins Mittelalter herrschten in Europa Faustrecht und Fehde. Erst 1495 beim Reichstag zu Worms gelang es im Heiligen Römischen Reich, die Rache per Privatkrieg im ganzen Reich zumindest auf dem Papier abzuschaffen […]

„Die Grammatik des Guten“, Spiegel Nr. 31/2007 S. 113

Dass das Buch Vayikra (Leviticus) 24,17-22 die grausame, rächende Körperstrafe als Sühne für Körperschäden befehle, ist so oft wiederholt worden, dass es selbst in einem wissenschaftlichen Beitrag des Jahres 2007 dem Autor wie geschmiert von der Feder geht. De facto aber fordert die Torah eben gerade nicht die Versehrung des Täters, sondern die Entschädigung des Opfers durch Geld.

Behandelt werden diese Gesetze, deren Sinn darin besteht, den Geschädigten Recht durch Entschädigung angedeihen zu lassen, im Talmud-Traktat Bava Kamma. Fünf Arten von finanzieller Entschädigung stehen dabei zur Debatte: Nesek (Schadenersatz, hier Entschädigung für den Verlust an Arbeitsmöglichkeit und -kraft), Zaar (Schmerzensgeld), Rifui (Heilungskosten), Schevet (Entschädigung für den Arbeitsausfall während der Genesung) und Boschet (Entschädigung für die erlittene Schmach).

Körperstrafen in Schadenfällen galten im biblischen Israel eben nicht als absolut legitim. Im Gegenteil. Warum Europa bis 1495 brauchte, um die Rachepraxis zumindest auf dem Papier abzuschaffen? Das ist eine andere Frage.

Dass einem der Torah-Vers Ayin tachad Ayin (Auge um Auge) auch heute noch immer wieder in dieser verfälschenden Form untergemogelt wird, ist einfach nur erschreckend.

4 Reaktionen zu “Auge um Auge”

  1. Markus

    Lieber Benjamin, erschreckend ist nicht nur der Umgang mit diesem Vers, sondern auch die handfesten Folgen, die aus dieser falschen Interpretation hervorgegangen sind.

    Eine genaue Lektüre ist nicht nur dem Text geschuldet. Am Ursprung eines Grossteils des Leidens auf dieser Welt wirst du einen schlechten Leser finden.

  2. Benjamin Stein

    Am Ursprung eines Grossteils des Leidens auf dieser Welt wirst du einen schlechten Leser finden.

    Das ist sicher so. Am gefährlichsten dabei ist allerdings noch immer das intentiös „schlechte Lesen“.

  3. Pensionierung des freien Willens « Turmsegler

    […] Der gestern erwähnte Spiegelartikel hat es wirklich in sich. Berichtet wird über neuere Erkenntnisse der […]

  4. Anton

    Manche Bibelausleger behaupten sogar, dass die private Rache des Einzelnen im Alten Testament erlaubt gewesen sei. Tatsächlich war der Grundsatz „Auge um Auge“ eine Anweisung für die berufenen Richter.

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