Ungeöffnete Briefe

11. Juli 2007

••• Auf den letzten Seiten des Talmud-Traktats Brachot findet sich eine längere Diskussion über die Bedeutung von Träumen und deren Potential, Einfluss auf unser Leben zu nehmen. „Ein ungedeuteter Traum“, heisst es dort „ist wie ein ungeöffneter Brief.“

Diesen Satz habe ich – wohl willentlich – lange Zeit gründlich missverstanden. Deuten müsse man die Träume also, sonst käme ja die Botschaft nicht an. Aber weit gefehlt! Folgt man der Diskussion auf diesen Talmudseiten, wird deutlich, dass etwas ganz anderes gemeint ist: Nur dann hat ein Traum das Potential, Einfluss auf unser Leben zu nehmen, wenn er gedeutet wird. Und die Bedeutung ist jene, die der Deuter ihm gibt. Einmal ausgesprochen jedoch, ist der Einfluss nicht mehr zu verhindern, die Bedeutung nicht mehr zu verbiegen. So müsse man vorsichtig sein, welchen „Brief“ man öffnet und welchen besser nicht.

An dieses Missverständnis fühlte ich mich erinnert, als ich Herrn p.-s Tagebucheintrag vom 8. Juli las:

Seit letzter woche lese ich nun zumindest keine post mehr und werfe sie gleich ungeöffnet fort. Ich habe mir angewöhnt, mit niemanden, den ich nicht kenne, mehr zu reden, auch nicht zu grüssen. Wenn ich ab und zu essen gehe, schreibe ich das, was ich bestellen möchte, auf einen zettel.

Mein eigenes vergleichbares Experiment endete vor etwa 15 Jahren mit dem Erscheinen eines Gerichtsvollziehers, der an meiner Tür eine heftige Geldbusse wegen „Nichterscheinens als Zeuge vor Gericht“ einzutreiben wünschte.

In Deutschland, durfte ich damals lernen, gelten eingeschriebene Briefe als rechtskräftig zugestellt, sobald sie im Briefkasten des Empfängers gelandet sind, wobei die Beweislast beim Empfänger liegt. Ob jener den Brief gelesen, ja nur jemals erhalten hat, spielt keine Rolle.

Ich hatte die Wahl zwischen 14 Tagen Haft oder Zahlung der Busse. Einsitzen wollte ich dann doch nicht…

3 Reaktionen zu “Ungeöffnete Briefe”

  1. perkampus

    ich kenne das maleur, der gerichtsvollzieher in Isny im Allg. brachte mir sogar ab und an meinen einkauf mit. ich dürfte ein rekordhalter in eidesstattlichen versicherungen sein. was menschen so sehr berührt, gehörte lange zeit sozusagen zu meiner amtstätigkeit.

    da erzähl ich doch gleich noch eine anekdote: einst hatte ich sogar ein auto (ich muss kaum erwähnen, dass ich es geschenkt bekam). es handelte sich um einen weissen ford fiesta, der noch ein jahr tüv hatte (auch hier kaum zu erwähnen, dass ich ein halbes jahr überzog). als ich das auto nicht mehr benötigte, stellte ich es auf einem öffentlichen parkplatz ab, hatte es aber vorher noch voller mülltüten gemacht (denn ich hatte nie eine tonne).

    nach zumutbaren zwei wochen kam dann das erste schreiben, in dem meine tat erklärt wurde und die daraus resultierende forderung. man drohte, es abzuschleppen und derlei bekanntes schriftmaterial eben.

    nun war mir das freilich wurscht. kern der sache war jedoch nach einigen monaten ein brief, in dem stand, dass ich dort zu unterschreiben hätte, weil man ja wüsste, dass ich kein geld hätte – und die stadt Isny entsorge dann das vehikel. promt unterschrieb ich.

  2. Benjamin Stein

    Gut, dass Du den Brief geöffnet hast! *g

  3. perkampus

    zu dieser zeit genügte es mir vollauf, all meine dokumente verbrannt zu haben. was da neues kam, las ich in der tat. seitdem ich exiliert bin, habe ich mit der beängstigenden BRD nichts mehr zu schaffen.

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