Wendeltreppe in Schloss Granitz / Rügen © Walter Voll
••• Im kleinen Land meiner Kindheit und Jugend gab es nicht viele Möglichkeiten, Urlaub zu machen. Bulgarien, Ungarn und die ČSSR wären mögliche Reiseziele gewesen, lagen aber ausserhalb des finanziellen Spielraums meiner Eltern, die als Akademiker nicht so üppig verdienten wie Angehörige der Arbeiterklasse. Also fuhren wir an die Ostsee, meist in der Nachsaison und meist nach Rügen. Und wenn man dort ist und es nachsaisonal regnet und man nach Ausflugszielen sucht, kommt das Jagdschloss Granitz schnell in die nähere Wahl.
Die Attraktion dieses Schlosses ist der Turm, an dessen Innenwand sich eine gusseiserne Wendeltreppe emporwindet. Über diese Wendeltreppe auf den Turm zu steigen, ist nicht nur für Kinder eine Herausforderung. Durch die durchbrochenen Stufen kann man bis nach unten schauen und – das war damals der Clou – diese Treppe hatte kein Geländer! Lediglich ein Seil baumelte auf Hüfthöhe an der Wand. Zur Turmmitte hin jedoch hätte einen plötzlich Taumelnden nichts aufgefangen. Es versteht sich von selbst, dass es durchaus vorkam, dass den Aufstiegswilligen Abstiegswillige entgegenkamen. Fehltreten durfte man auf dieser Treppe jedenfalls nicht.
Heute geht das natürlich nicht mehr an; und wie man auf obigem Foto sehen kann, wurde die Treppe unterdessen mit einem Geländer ausgestattet, damit auch ja keiner abstürzt.
Eine Wendeltreppe ganz anderer Art – die mit diesem Bild wahrscheinlich besser abgebildet wäre – hat mich an die oben erwähnte Treppe erinnert: gemeint ist die Prosa-Wendeltreppe, an der Markus A. Hediger und Michael Perkampus gerade eifrig bauen.
Nichts anderes als ein Roman, dieses von p.- so leidenschaftlich verschmähte Prosa-Etwas, soll in gemeinsamer Produktion entstehen. Die Autoren wechseln sich kapitelweise ab, spielen sich Figurenentwürfe und Handlungsstrangfransen zu, mit denen der jeweils andere dann nach Gutdünken weiterverfahren kann.
Der herr ü., beschied mir vor einigen Monaten, als er meinen Schlüssel-Beitrag als Einladung zu gemeinsamem Schreiben missverstand: So etwas, das könne doch gar nicht funktionieren. Diese Netzliteraten, ja Literaten allgemein mit ihren überproportionalen Egos, die würden sich da nur zausen, doch sicher nichts ordentliches Gemeinsames zustande bringen. Nun, da irrt er für dieses Mal, der herr ü. Denn was Hediger und Perkampus hier vorlegen, zeugt nicht nur von überbordender Freude an der Sache, sondern ist auch noch weit mehr als nur „ordentlich“; es ist richtig gut.
Noch, das sei zugegeben, werfen die beiden die Netze (und Ideen) aus; alle Figuren und Entwicklungen stehen noch auf Start. Aber schon jetzt – nach gerade einmal vier Kapiteln – ist dieses Gemeinschaftsprojekt ein aufregendes Kaleidoskop überraschender Prosamöglichkeiten. Hedigers Kapitel 3 (Erica) hat es mir besonders angetan. Mit grosser Spannung werde ich den Fortgang verfolgen und lade die Turmsegler-Leser ein, ebenso mitzulesen.
Ort des Geschehens ist Hanging Lydia, wo Markus A. Hediger wöchentlich ein neues Kapitel veröffentlicht und das wachsende Gesamtwerk jeweils aktualisiert als PDF zum Download hinterlegt.
Genug gelobt. Einfach herunterladen, lesen, freuen. Es geht eben doch.
Am 4. Juli 2007 um 09:20 Uhr
Danke für die Vorschusslorbeeren!
Allerdings spielt das Geschehen auch auf p.-’s Weblog. Jeder stellt seine Kapitel jeweils auf dem eigenen Weblog online. Ich führe lediglich unter angegeben Link das „kompilierte“ Werk.
Und noch eine kleine Korrektur (von der Du allerdings nichts wissen kannst): p.- und ich verzichten vorläufig auf die Bezeichnung „Roman“. Vorerst sind die einzelnen Kapitel höchstens als lose zusammenhängende Erzählungen anzusehen, das gesamte ist ein literarischer Strauss, der sich um ein Zentrum bindet. Was schlussendlich daraus wird – das wird sich (hoffentlich!) bei intensiven, Caipi-getränkten Arbeitssitzungen in Rio herausstellen!
Am 4. Juli 2007 um 09:49 Uhr
Die Wendeltreppe von Rolf Escher ist ganz wunderbar! Sie erinnert mich an ein Hotel aus meiner Kindheit. Dort war die Wendeltreppe keine Treppe sondern eine riesige Volière, die sich im Innenhof von Etage zu Etage emporwand. Trat man aus dem Zimmer, blickte man auf bunte Paradiesvögel aller Arten.