Ein Gastbeitrag von Alban Nikolai Herbst
in Erwiderung auf „Gereimtes Versmass“
••• Neue Formen auszuprobieren, sie zu füllen und schließlich (vorübergehend, weil so etwas immer weiter führt) zu beherrschen, ist von Anfang an ein nachdrückliches Element auch meiner Romane gewesen, wurde allerdings erst in letzter Zeit, und zwar von Literaturwissenschaftlern, nicht von der Kritik und kaum von Lesern bemerkt – was wohl auch daran liegt, daß ein plausibler Kanon, wie ein Roman auszusehen habe, nicht exitiert, so daß sich ein solcher Kanon auch nicht durchbrechen läßt, nicht eigentlich transzendieren läßt. Daran aber wäre überhaupt nur die neue Form merklich. Man kann sich allenfalls, was ich seit einiger Zeit tue, diesen Kanon selber schreiben. Nur zeitigt das bei Lesern wenig erkenntnistheoretische / ästhetische Erkenntnis, da meist die Zusammenhänge, aus denen argumentiert wird, gar nicht begriffen oder verlorengegangen sind.
Das hängt a u c h damit zusammen, daß wir unsere Herkünfte verloren haben. Am schlagendsten läßt sich das bei der musikalischen Bildung zeigen. Vieles wird gar nicht mehr gewußt, so daß kaum jemand merkt, wenn etwa in einem Popstück rundweg aus einem Kulturerbe abgekupfert wird, das dem Urheber selbst ganz fremd ist und ihm nun als Steinbruch dient, aus dem er sich – arglos, da ja auch er die Bedeutungen nicht weiß – bedient, wie es das sog. einfache Volk an den zusammengefallenen Tempeln der Antike tat: was den Stall abdichten konnte, das schleppte man dann halt dahin. Ein normaler, verständlicher Vorgang, der so lange unproblematisch ist, als es immer wieder Bewegungen gab, die verstreuten Marmorblöcke neu zusammenzusammeln und ihnen nachzuforschen – also dem nachzuforschen, woher wir kommen.
Diesem „woher wir kommen“ hat aber der Hitlerfaschismus einen so schlechten Geschmack zugefügt, daß zumindest das Gros der Deutschen und deutsch-Angeschlossenen das gar nicht mehr wissen wollten und nur zu gerne – ein Akt der Abwehr – eine „neue Tradition“ begründeten, die sich vornehmlich aus dem US-Amerikanischen gespeist hat. Man übernahm – und hielt das für einen Akt der Emanzipation – ganz unbemerkt die Ästhetik des Gegners – ein Vorgang, der „normalerweise“ einer ist, den der Sieger dem Besiegten aufzwingt. Hier war Zwang nicht nötig, den Schauder vor der eigenen Kultur hatte die eigene Kultur ihren Trägern schon beigebracht. Und mit dem, was man nicht mehr wissen wollte, ging das, was man wissen sollte, mitverloren. Wer sich jetzt wieder für das, was man wissen sollte (weil man eben d o c h daherkommt), interessiert, spricht deshalb meistens in eine Leere.
Bei Gedichten – eine für mich selbst neue Erkenntnis – ist das anders. Zumindest aufgrund ihrer Kürze sind Formen und Erscheinungen im allgemeinen bekannt geblieben. Ich mag mich allerdings insofern irren, als, von Ausnahmefällen wie Rilke einmal abgesehen, Lyrik immer ein sehr begrenztes Publikum hatte, gerade in ihren exponiertesten Formen; es gibt, wie unter Lesern auch und gerade unter Kritikern, signifikant mehr Experten oder doch lyrisch Hochgebildete, als daß für Romane der Fall ist, die nach wie vor mehr oder minder nach Kriterien des Geschmacks, also nach Gefallen und/oder der (politischen) Ideologie, ihre Urteile fällen. Etwa sind auch moralische Zweifelsfälle, wie Benn, als Lyriker nahezu völlig unbestritten geblieben – einfach weil so auf der Hand liegt, welche L e i s t u n g ihre Dichtung gewesen ist und das auch bleibt – und eben auch, wie weitgehend sie sich auf die Herkünfte bezieht.
Hier setzt – aus einem ganz anderen Grund, nämlich einem R o m a n hergekommen – meine eigene lyrische Arbeit an, die sich ja auf der Oberfläche geradezu (neo)klassizistisch lesen läßt. Das hat wiederum eine Ursache in der deutschen Einschätzung von „Postmoderne“, der ich ja nun wohl ein- für allemal zugeschlagen bin. Man wirft ihr gerne die vermeintliche Beliebigkeit vor. Dem sperrt sich die strenge Form, zumal dann, wenn sie antike, kanonisierte Muster oder so etwas wie die Sonettform wieder aufnimmt. Da ist dann nämlich keinerlei Beliebigkeit mehr – und auch gar nicht möglich. Wo man im Roman unendlich lange erklären und aufzeigen und die eigenen Strukturen selbst öffentlich analysieren muß, damit die anderen überhaupt dahinterkommen, braucht es im Gedicht nicht mehr als ein traditionelles Schema, um den Vorgang klarzumachen, ja er l i e s t sich selbst. (Daß man aber, dies nebenbei bemerkt, die alten Formen nach den Verwerfungen der Moderne wieder hernehmen kann, ist etwas, das wir der Postmoderne wirklich verdanken).
Dies alles hat auch eine politische Seite, nämlich meine eines entschiedenen Europäers, der sich, um Europäer sein zu können, seiner Herkunft und Herkünfte entsinnt. Zu denen gehört wie das Judentum, ohne daß es eine abendländische Kunst gar nicht gäbe und dessen Kunst wiederum im Orient wurzelt, mit dem wir schon deshalb mehr gemein haben als mit US-Amerika, die Antike – und zwar so, wie sie gewesen sein mag, wie wie sie uns über die Klassik vermittelt wurde.
Vom Judentum und vom mittelalterlichen Sizilien verläuft ein weiterer Strang nach Nordafrika – imgrunde ist der gesamte Mittelmeerraum die europäische Wiege – und auch, aber nur ein bißchen, der nordische und slawische; Schwarzafrika, das für die Kultur, die die USA tatsächlich aus Eigenem hervorgebracht hat – etwa den Jazz – entscheidende Bedeutung hat, ist für Europa geradezu marginal und wirkt erst jetzt – etwa seit der vorletzten Jahrhundertwende -, ü b e r die USA, auf die europäischen Künste ein. Richtige W u r z e l n sind das aber (noch) nicht – wenn man das mal an der europäischen Kunstgeschichte mißt, die gut 4000 Jahre und mehr auf dem Buckel hat. Wer meint, das mißachten zu können, der irrt – oder wirft ganz bewußt Kenntnis, Verständnis und Wirkkraft der eigenen Kultur kommod auf den Mist. Übrigens auch Kenntnis, Verständnis und Wirkkraft sowohl der mosaischen als auch der christlichen Religion – und er k a n n dann etwa den Islam, die nahste Bruderreligion, gar nicht verstehen, um von matriarchalen bzw. natur- und volksreligiösen Formen ganz zu schweigen, die doch gerade im mediterranen katholischen Christentum bis heute virulent geblieben sind und ihren Ausdruck in Legenden und Volksmythen finden – künstlerisch aufgehoben in lyrischen Stanzen, die magischen Charakters sind.
Da es aber wiederum nicht darum gehen kann, museal nachzudichten, was auch vom Klang her schon gar nicht ginge und obendrein jeglicher Glaubwürdigkeit spottete, ist es unabdingbar, die wiederaufgenommenen Formen weiterzuentwickeln. So daß ich eine bzw. mehrere europäische Traditionslinien zwar entschieden und ganz offen aufgreife, aber mit ihnen dort anknüpfe, wo der Hitler-Faschismus unsere Kultur zer- und abgeschnitten hat – und mit ihm der Großteil eines ganzen Volkes, das sich dann mit der gleichen blinden Begeisterung der Kultur eines Siegers an den Hals wirft (übrigens taten das so b e i d e Teile Deutschland, der eine nach den USA, der andere nach den USSR), der über seine Hegemonialabsichten nicht einmal je einen Hehl machen mußte.
Am 31. Mai 2007 um 12:03 Uhr
Ich muss hier zunächst an einer Stelle das „Nagen“ beginnen, weil Sie so viel auf einmal auf den Tisch legen, dass man in der Debatte sukzessiv vorgehen muss.
All das, woran Sie sich erinnern und woran Sie sich bedienen, um es abzuschmecken und auf Wieder-Einführbarkeit zu testen, hatte nun in den originalen Zeitzusammenhängen eine völlig andere Bedeutung. Ich beziehe mich hier gern auf eine Debatte, die Raoul Schrott gerade aus Anlass seiner Neuübersetzung bzw. Nachdichtung der „Ilias“ in „akzente“ führt. Die Versmasse der antiken Dichtungen waren 1) der Sprache angemessen, in der sie verwendet wurden; und sie trafen 2) die Hörgewohnheiten des Publikums.
Vor diesem Hintergrund wäre es eher analog, wenn wir heute unsere Rhythmen aus der Techno-Musik beziehen würden. Die Wiedereinführung solcher vergessener Stilmittel kann ihnen m. E. nie wieder die Funktion zuspielen, die sie in ihrer angestammten Zeit ganz automatisch hatten. Die Gefahr besteht demnach – und ich schreibe bewusst GEFAHR – dass der Versuch entweder unentdeckt bleibt, weil dem Leser/Hörer das Rezeptionsorgan dafür nicht gewachsen bzw. verkümmert ist, oder aber dass die Methode als rein artistisches Unterfangen dasteht.
Wenn ich die Stilmittel nicht rechtfertigen kann wegen ihres Wirkungspotentials, was bleibt dann noch als Argument für ihren Einsatz? Und: Müsste man nicht tatsächlich Stilmittel finden und kultivieren, die das heutige (wenn auch verkümmerte) Rezeptionsorgan eines Lesers/Hörers erreichen?
Am 31. Mai 2007 um 12:36 Uhr
Hier ist deutlich zu sagen, daß es s e l b s t v e r s t ä n d l i c h nicht darum gehen kann, einen alten Ton des Alten wegen zu renovieren, sondern es geht um die Spuren, die ins Neue nach wie vor wirkend hineinführen. Ich habe an anderer Stelle unter anderem darauf hingewiesen, daß gerade in die fortgeschrittenste Technologie alte Begriffe, etwa von Dämonen, enorme Urständ feiern – zu Recht, wie ich meine. Was nun die „heutigen“ Rhythmen anbelangt – geradezu ihrerseits permantente Revokationen von Altem, ja Ältestem, Erstem, zum Beispiel dem Herzschlag -, sind sie ganz sicher aufzunehmen – aber eben in einem Verhältnis, das den einmal erreichten Kulturständen entspricht. Man muß sich nur klarwerden über das, was verloren und was gegen das Verlorene eingetauscht wird. Im Fall der Moderne (einer scheinbaren, als Moderne verkauften; sie selbst war ja gerade kompliziert in ihren Kunstformen) eine auf die Bedürfnisse des Warenumschlags, also Konsums, heruntergetretene, profanierende Nüchternheit, die eben Sonettensträußchen bindet, wo und weil Blumengeschäfte refinanziert werden müssen. Diese Nüchternheit ist eine von der Äquivalenzform geforderte, rein noch ökonomisch ausgerichtete, die allein den G e d a n k e n an Widerstand desinfiziert.
Im übrigen ist große Kunst in den allerseltensten Fällen von den Zeitgenossen, das meint signifikant zahlreiche Gruppen, als das, was sie ist, gesehen worden – nur weniges später steht man dann, ist das Widerständige der Kunst eliminiert, nach Tausenden in Schlangen vor der MoMA Berlin.
Das behauptet jetzt nicht, daß etwas, das das Gehör der Menge n i c h t erreicht, schon deshalb Kunst s e i. Da gilt wohl Mahlers Satz, daß ein Künstler niemals, nicht bis über seinen Tod hinaus, wisse, ob er Kunst geschaffen habe. Die Unsicherheit bleibt.
Am 31. Mai 2007 um 13:09 Uhr
Da kann ich Ihnen jetzt nicht ganz folgen und bitte um eine Präzisierung.
Mich interessiert hier nicht die Frage des Marktes. Mich interessiert, ob ein Stilmittel beim Adressaten wirken kann. Denn ich verstehe Dichtung noch immer als Kommunikation.
Der Angesprochene muss die Sprache des Sprechenden verstehen, damit der Sprecher ihn erreichen kann. Und ich fasse hier den Begriff der Sprache einmal weiter im Sinne von Gesamtinstrumenentarium des dichterischen Ausdrucks, zu dem ja die angesprochenen Versmasse gehören. Wenn das verwendete „alte“ Instrument nicht der Kommunikation dienen kann – und genau das beklagen Sie ja – welche Funktion hat es dann noch?
Eine philosophische? Eine Because-I-Could-Funktion? (Und ich stelle diese Frage insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Meisterung dieser Stilmittel ja aufwändig ist, gelernt sein will und oft auch einengt.)
Wollte man darauf spekulieren, müsste man daran glauben, dass das verkümmerte Rezeptionsorgan sich regeneriert. Besteht da Hoffnung?
Das ist tragischerweise sehr wahr gesprochen.
Am 31. Mai 2007 um 13:32 Uhr
Sie kommen im Kapitalismus um die Frage des Marktes so wenig herum wie in rein agrarischen Kulturen um die Jahreszeiten. Es ist ein Hauptproblem der Gegenwartskunst, daß es der Markt auf identifizierende Vereinfachung – Äquivalenz – anlegt. Bereits in der Grundschule werden Kinderlieder kaum noch in der originalen volksliedhaften, ja an sich schon immer schlichten Harmonieführung gelehrt, sondern nahezu immer mit Synthesizer und artifiziellen Beats unterlegt, von den meist noch darübergelegten ‚falschen‘ Geigen zu schweigen. Dahinter steht eine Absicht: nämlich Zurichtung auf den vermarktbaren Code, dem alle Ambivalenz ausgetrieben ist. Bei meinem siebenjähigen Sohn wird sogar auf der Lern-CD fürs kleine Einmaleins so verfahren. „Es lernt sich dann besser“, heißt es. Was Unfug ist, weil es ein komplizierter Sprechrhythmus genauso gut täte, der darüber hinaus noch musikalisches Gespür mitvermittelte.
Andererseits i s t die komplexe Form wahrnehmbar, auch die tradierte. Sie muß nur erst einmal den Empfänger erreichen. Und er muß den W i l l e n haben zuzuhören. Zum Begriff des Kunstwillens, aus dem 19. Jahrhundert stammend, gehört ein Rezeptionswille, der der Neugier eines gut vergleichbar ist, den Zusammenhänge der Natur interessieren und der sich deshalb den oft mühseligen Strapazen der Aneignung naturwissenschatlicher Verfahren unterzieht – und auch dem nur allzu oft schmerzhaften Training, das Sportler gute körperliche Leistungen erzielen läßt. In all diesen und ähnlichen Disziplinen ist, daß man Schwierigkeiten zu überwinden hat, den meisten Menschen selbstverständlich. Von der Kunst aber scheint erwartet zu werden, daß sie sofort eingängig sei. Und damit sind wir wieder in der Ökonomie. Da dem Kunstbegriff nach und nach der des Entertainments, also freizeitlichen Konsums unterschoben worden ist, mit dem er eigentlich gar nichts zu tun hat (vielmehr war er über Jahrhunderte an Handwerk und in der einen und/oder anderen Form an den meist religiösen Ritus gebunden), fällt auch der Arbeitsbegriff.
Verzeihen Sie, aber s o verkümmert ist es ja nicht. Es werden nur Tausende Deckel draufgehalten und Watte reingestopft, damit es ja auch ruhig ist. Im übrigen stehen meines Wissens noch runde Zweidrittel des Gehirns frei zur Verfügung…
Und schließlich, wenn Sie „Kommunikation“ darauf runterbrechen, daß man sofort verstanden wird, unterschätzen Sie eines d e r kommunikativen Antriebe sehr: das des – Geheimnisses. Sie werden aus Ihrer eigenen Arbeit die Momente kennen, in denen sie selbst Ihnen selbst eines ist. Dann verspüren Sie einen Schauer, ganz körperlich und sehr intensiv.
Am 31. Mai 2007 um 14:00 Uhr
Danke für diese Präzisierung. So verstehe ich dann auch, warum Sie die Verbindung zum Markt zwangsläufig sehen.
O, nehmen Sie mich da in meinen debattendienlich vereinfachenden Aussagen nicht zu wörtlich. Selbstverständlich kommt es nicht auf das sofortige Verstandenwerden an. Dann bräuchten wir Lyrik ja gar nicht erst machen, sondern müssten die Werbespots für die Kunst domestizieren. Nein, das Geheimnis muss sein. Es darf freilich das dem anderen Ent-Deckte nicht überwiegen. Aber davon war ja hier nicht die Rede.
Am 31. Mai 2007 um 17:32 Uhr
All das kompliziert sich vor allem noch darum, daß wir selbst ein Geheimnis nicht machen können, sondern es ergibt sich – oder eben nicht. Dann ging es schief. Oder ging n i c h t schief, aber wir wissen nicht, was wir geschrieben haben. Das findet alles, wo es Kunst ist, außerhalb des bewußt Instrumentalen statt.
In MEERE, h i e r komplett abgedruckt, gibt es dazu die (hier um einen Absatz gekürzte) folgende Stelle:
Oft wissen wir nicht, was wir dem anderen „entdecken“, sehr oft auch, wenn wir das Entdeckte selbst bemerken, w o l l e n wir das so gar nicht entdeckt haben. Da setzt das persönliche Problem ein, von dem ich meine, daß es sich nur über die Form lösen läßt: ist etwas ihr Ergebnis, ob es mir schmeckt oder nicht, bleibt es stehen und wird zum weiterzuverarbeitenden Material. Genau diese Haltung unterscheidet einen Künstler von einem Missionar.
Am 31. Mai 2007 um 17:38 Uhr
Oha, das ist ein grosser Satz, den ich erst einmal bedenken muss…
Am 31. Mai 2007 um 17:44 Uhr
Ohne inhaltlich die anregende Diskussion aufgreifen zu wollen, möchte ich einen Gedanken Adornos – durchaus im Zusammenhang – zitieren:
Adorno hat „die Beziehung auf die traditonellen Kategorien“ deshalb als unumgänglich erkannt, „weil allein die Reflexion jener Kategorien es erlaubt, die künstlerische Erfahrung der Theorie zuzubringen. In der Veränderung der Kategorien, die solche Reflexion ausdrückt und bewirkt, dringt die geschichtliche Erfahrung in die Theorie ein. (…) Von der aktuellen künstlerischen Erfahrung her (…) legitimiert sich der Rekurs auf die traditionellen Kategorien, die in der gegenwärtigen Produktion nicht verschwinden, sondern noch in ihrer Negation wiederkehren.
Erfahrung terminiert in Ästhetik: sie erhebt zu Konsequenz und Bewußtsein, was in den Kunstwerken vermischt, inkonsequent, im Einzelwerk unzulänglich sich zuträgt. Unter diesem Aspekt handelt auch nichtidealistische Ästhetik von ‚Ideen‘.“
(Ästhetik, S. 393)
Am 1. Juni 2007 um 15:29 Uhr
Den Ausführungen zur Zeitbeständigkeit der Lyrik qua Form stimme ich voll zu. Das lyrische Publikum über dessen Exklusivität zu bestimmen halte ich allerdings für problematisch, gerade in Hinsicht auf liedhafte Formen. Man könnte das Argument auch umdrehen und sagen: selten war Lyrik so volksnah wie heute im Popbetrieb. Hier gibt es zwar die beschriebene Integration der Amerikanismen, die allerdings auch als sowohl belebendes wie völkerverbindendes (globalisierendes) Element betrachtet werden kann.
Zur Formensprache des Romans: Es ist eine Ungeuheuerlichkeit, die internationale Moderne derart auszublenden, auch den deutschsprachigen Anteil daran. Ist es nicht AUCH ein Kennzeichen unserer postmodernen Zeiten in den Geisteswerken das Progressive durch das Kannibalistische ersetzt zu haben, den Fortschritt durch die Drehung um die Achse der (vampiren ausgebeuteten) Darstellungsobjekte?
So interessant sich die obigen Ausführungen lesen, so wenig scheinen sie mir in die Brust unserer Zeit zu weisen. Das kulturelle Gedächtnis sorgt in einer lebendigen Kultur für sich selbst, die archetypen zehren nicht von erkenntnis, sondern davon unerkannt zu bleiben. Ist das nicht die alte Grenzlinie zwischen Kritiker und Schöpfer? Ihr Überschreiten war modern. Wir aber, jetzt, haben die Freiheit, blind zu wandeln.
Am 2. Juni 2007 um 08:11 Uhr
@Sonogara.
Zur „Freiheit, blind zu wandeln“, habe ich mich hier geäußert. Und die „Volksnähe“ – in deutschem Zusammenhang ein Wort, das mir nicht ohne Schauder durch den Körper geht – ist beim Pop eine industriell hergestellte. Woher aber nehmen Sie… wie b e g r ü n d e n Sie die Aussage „die archetypen zehren nicht von erkenntnis, sondern davon unerkannt zu bleiben“? Das ist – allenfalls – ein normativer Satz des Glaubens.
Im übrigen habe ich ein lyrisches Publikum, und schon gar nicht „bestimmt“, über Exklusivität definieren wollen; selbstverständlich gibt es ein unterdessen riesiges Publikum für Gedichte; nur ist ein Gedicht, weil es Gedicht ist, weder schon gut noch gar Kunst. Die „volksnahsten“ Gedichte stammen von Erich Fried, und d a s ist vielleicht ein Zeugs! Zudem gilt, à propos Pop, gerade für vertonte Gedichte, daß sie nicht unbedingt zu den besten gehören: Komponisten nutzen (und Songwriter(!) schreiben) Gebrauchstexte, die ihren Klang überhaupt erst über die Musik finden. Das gilt in vielen Fällen sogar für die großen Komponisten. Von Hans Bethge etwa, hätte es nicht Gustav Mahler gegeben, spräche heute kein Mensch mehr. (Eine Ausnahme sind hier, übrigens, einige Gedichte Wilhelm Müllers; umgekehrt haben sich etwa Othmar Schoeck und Frank Martin fast ausnahmslos solcher Gedichte angenommen, die zweifelsfrei Kunst sind. Diese Tendenz hat sich in der Neuen Musik fortgesetzt, weil hier selten mehr ein Text auf seine Brauchbarkeit in Hinsicht auf tonal-harmonische Gesetze hergenommen wird. Ein exquisites Beispiel ist Detlfev Heusingers Vertonung der „Todesfuge“, vor der ein „harmonischer“ Komponist völlig versagen müßte, weil eine tonale Vertonung eben d i e „Harmonie“ wieder herstellte, die für Celan mit den allerschlimmsten Gründen ein- für allemal verlorenging.)
Am 4. Juni 2007 um 09:47 Uhr
Wenn man eine strikte Trennung zwischen U und E zieht, wie sie die Moderne prägt, stimme ich Ihren Ausführungen zu. Dann müssen auch ‚Gebrauchstexte‘ überwunden werden. Folglich gilt es auch, den Archetypen analytisch ins Mark zu dringen. Dem kann ich soweit folgen. Auch die kritische Betrachtung Frieds (und in der Folge Brechts?) kann ich vor diesem Hintergrund nachvollziehen.
Nun ist es so, dass ich diese Trennung nicht vollziehe, da ich sie als Hemmschuh betrachte, der meine Ausdruckskraft stolpern ließe. ‚Gebrauchstexte‘ liefern oft Material in formaler und manchmal sogar inhaltlicher Sicht, dem es nachzuspüren lohnt, nachzuformen. Ich mag mich dem 1000-Watt-Strahler des reinen Intellekts nicht bedingungslos hingeben, das wird weder der Sprache noch den Bildern gerecht, die es zu gestalten gilt.
Es ist wohl eine Frage des Kairos, der Zielrichtung.
Am 4. Juni 2007 um 13:56 Uhr
@Sonogara.
Sie mißverstehen mich. Ich glaube keineswegs, daß Gebrauchstexte „überwunden“ werden müssen, denn sie erfüllen ja für viele Menschen, für die meisten wahrscheinlich, ihren Zweck – auf den hin sie geschrieben/komponiert wurden und der sich eben gänzlich in sich selbst erfüllt. Das ist genau so in Ordnung, wie man ein Brot backt, um zu sättigen. Ich meine nur, daß es sich bei Gebrauchstexten nicht um Kunst handelt, für die völlig andere Kategorien als die eines Zweckes gelten, bzw. die selbst dann ihren definierten Zweck tanszendieren, wenn sie nur auf ihn hin verfaßt worden sind. Dazu gehört etwa sakrale Musik, die selbstverständlich Z w e c kmusik ist, der es aber in ihren Kunstformen eignet, daß sie sogar Nicht-Gläubige erfüllt, ohne daß diese deshalb konvertieren oder sich missioniert fühlen müßten.
Daß wiederum die U-„Künste“ ein enormes M a t e r i a l liefern – da wäre ich gewiß der Letzte, das zu bestreiten. Es scheint mir sogar so zu sein, als lieferten sie m e h r Material als die anderen Hoch-Kunstformen. Aber eben ein Material, das dann seinerseits wieder zu Kunst bearbeitet wird. Auch dies läßt sich am Beispiel der Musik gut zeigen, auch an dem neuerer U-Musik, etwa in der Entwicklungslinie des Jazz. Ganz ähnlich ist es, glaube ich, in der Literatur. Für denjenigen, den die Erlebnisse der Kunstranszendenz aber einmal erfaßt haben, ist die U-Musik (wie die U-Literatur) nicht mehr erfüllend, sondern schal. Das ist, wie so vieles, eine Auswirkung der Bildung des Ohres; man wird von bestimmten Dur-Dreiklängen geradezu beleidigt, hat man sich der Neuen Musik einmal überlassen und ist von ihr beglückt worden. Die Beschallung mit U-Musik kommt dann dem Leiden eines ausgebildete Gourmets gleich, den man zwangsweise von morgens bis abends mit Butterceme vollstopft.
Am 4. Juni 2007 um 17:09 Uhr
In Fragen der Geschmacksbildung stimme ich Ihnen zu. Das Publikum eines Ferran Adrià unterscheidet sich vom Publikum einer Currywustbude. Stockhausen klingt nicht im Fahrstuhl. Wer sich in Wollschläger verliert, ist im Regelfall für May-Romane verloren (hier klingt ein Dissenz auf, den ich einfach so stehen lasse, da Wollschläger ja in Schmidt-Nachfolge Triviales eroberte). Und selbstverständlich ist Kunst kein Kunsthandwerk, auch wenn sie Handwerkliches, neben der ästhetischen Bildung, voraussetzt.
Der Punkt, an dem sich unsere Argumente kreuzen, liegt, meiner Beobachtung nach, in den Folgerungen, die daraus zu ziehen sind. Sie sprechen vom ‚Transzendieren‘ des Zwecks, der Forderung des Alltäglichen, als gäbe es den Königsweg eines George in diese Regionen, zumindest klingt dies für mich an. Das ist der Weg der fordernden Moderne, die voraus schreitet zum Licht.
In dieser Hinsicht erlebe ich mich eher als Romantiker, wie der junge Schlegel (dem Alter nach müsste ich, wenn ich den megalomanen Vergleich fortschriebe, demnächst zum Ritter des Christusordens ernannt werden – höchst unwahrscheinlich). Das Licht ist da, darum muss ich mich nicht kümmern. Einzelne Funken zu erhaschen, ihnen mit Sprache gerecht zu werden, ist mir genug und bereits ein meine bescheidene Schöpferkräfte gehörig dehnendes Unterfangen.
Auf dieser Grundlage verstehe ich Ihr Streben. Es ist, in meinen Augen, das Streben eines Romanciers nach dem großen Wurf (ich habe Ihre Großerzählung in ‚Volltext‘ gelesen). Als Lyriker werfe ich meine Angel eher nach (anscheinend) simplen Dingen aus, die nur manchmal so überfrachted daherborden wie ‚holy dam‘. Ich achte die gewaltige Kunst der großen Architektur, und in einigen Werken macht sie mich aufmerken. Aber das, was ich suche, ist Sprache, so nah am Objekt, dass es leuchtet. Die Möglichkeiten, die mir die Aufhebung der U/E Scheidung, die Mannigfaltigkeit des ewigen Augenblicks der Posthistoire, dazu eröffnet, schätze und achte ich.
Daraus folgt eine andere Herangehensweise an Subjekt, Objekt, Wirklichkeit, die eher auf Inklusion abzielt (deshalb die obige Wiederaufnahme des Vampirvergleichs) und ergo eine andere Erkenntniswegschleife nimmt, ein, im Vergleich zu Ihrem Streben, eher mikroskopisches Schauen.
Am 5. Juni 2007 um 21:15 Uhr
Ihre Beiträge habe ich mit grossem Interesse gelesen. Die Thematik spricht mich an – sehr sogar. So sehr, dass ich eigene Überlegungen angestellt habe, die ich hier – wenn auch in ungeordneter und eher knapper Form – beifügen möchte. Es sind vor allem zwei Punkte, die mich haben aufhorchen lassen:
Für mich kein Satz des Glaubens. Die Archetypen oder Urbilder sind so wenig fassbar wie der Begriff als solches. Lediglich die individualisierte Form, die Vorstellung, ein mehr oder weniger gelungenes Bild ist möglich. Rückschluss ja, wie bei einem hypothetischen Konstrukt (wobei ich jetzt nicht gesagt habe, dass die Archetypen hypothetische Konstrukte sind), volles Erfassen nein.
Zur Kultur: Kultur ist etwas Lebendiges. Es wird immer Fremdeinflüsse und Rückbesinnung auf die Wurzeln geben (Sinus und Cosinus der Kulturentwicklung). Wir haben die besten Beispiele in der Klassik und in der Romantik. Ausserdem haben wir immer das Gros der Bevölkerung und die gebildete Elite. Das sind Facts. Wir haben den Zeitgeschmack. Wir haben „ästhetische Bedürfnisse“, denen bestimmte Kunstformen mehr oder weniger gerecht werden. Und wir haben die „Kläranlage Zeit“, die vieles herausfiltert und zu allen Zeiten herausgefiltert hat.
Wir haben das alles aber auch in uns selbst: Manchmal habe ich Hunger auf Bratkartoffeln und dann ist mir der Kaviar egal. Manchmal brauche ich Rod Stewart, dann wieder will ich Dvorak oder Alban Berg – wenn ich auf mich höre, wenn mein verbildetes Über-Ich diese Kunst noch erlaubt.
Wichtiger als der Mantel des gebildeten Menschen – der nicht jedem passt und einigen zu gross ist – ist für mich die Begegnung mit der eigenen Kreativität als künstlerischer Quelle. Ohne diese Begegnung müssen wir gar nicht über all das andere reden.
Wer sagt uns, ob nicht in 500 Jahren ein wahrhaft grosses künstlerisches Werk aufgrund von einem Rammsteinsong geschrieben wird, genauso wie Strawinsky seine Pulcinella-Musik gefunden hat? Und warum soll jemand heute nicht Gefallen finden an einem ganz einfachen Lied, vielleicht nur an einem einzigen Akkord, oder an einem einzigen Ton? Vielleicht schliessen sich hier Welten auf, die sich nie aufschliessen würden, wenn man mit Stockhausen beginnen würde.
Jedenfalls tendiere ich im Moment sehr zur „Kunst im Taschenformat“. Und irgendwie glaube ich noch an etwas anderes: Ich habe das Gefühl, dass die echte Kreativität mit dem Zeitgeist Hand in Hand geht (Händchen hält), d. h. wer sich dort Einlass verschafft, der läuft auch der Zeit nicht hinterher, ist aktuell. Aber das ist nur so ein Gefühl und eine stille Erfahrung.
Angelika Pulfer
Am 6. Juni 2007 um 07:32 Uhr
@ Angelika Pulfer
Das ist spätestens ein höchst heikler Satz, wenn man ihn auf die Zeit des Hitlerfaschismus, sowie doktrinärer politischer Systeme überhaupt anwendet. Wiederum ist „ob nicht in 500 Jahren ein wahrhaft grosses künstlerisches Werk aufgrund von einem Rammsteinsong geschrieben wird“ eine These, die ich sofort unterschreiben würde; worum es hier in der Diskussion aber geht, ist die Frage, ob der Rammsteinsong-selbst bereits Kunst ist. Das würde ich strikt verneinen, und zwar auch gerade w e g e n des Zeitgeistes. Oft ist es sogar so, daß Kunst dem Zeitgeist gerade vorausläuft, und zwar das in einem Sinn, den Ralf Schnell einmal auf den Punkt gebracht hat: „Avantgarde ist Retrogarde“ – sie tendiert nahezu immer zu Regressen, die sie allerdings verarbeitend vollzieht – das geht in Sprüngen, nicht stetig. Ich will in meinen Heidelberger Vorlesungen bewußt darauf eingehen. Aktualität insgesamt scheint mir weniger eine ästhetische Kategorie, als vielmehr ein Fetisch zu sein, der sich der kapitalistischen Bewußtseinsindustrie ver“dankt“ – aus Gründeren schnelleren Absatzes. Die wirklich-aktuellen Themen sind Menschheitsthemen, d.h. sie sind uralt: Schmerz, Hunger, Durst, Liebe, Sexualität, Einsamkeit. Das, in der Tat, „bearbeiten“ die U-Künste oft direkter als die E-Künste, weshalb ich glaube, daß sich die E-Künste diesem Umstand wieder bewußt machen müssen. Spätestens mit der Postmoderne (nicht aber seit dem, was ich einmal „ihr deutsches Mißverständnis“ nennen möche) hat sie das auch getan. Über die „Qualen“ des 40-Stunden-Arbeitstages zu schreiben hingegen und die zivilisierten Leiden eines mittleren Angestellten, ist ziemlicher Unfug – das sollte man den Gewerkschaften übelassen. Ein Anderes wäre es, man transzendierte diese Leiden zu einem Allgemeinen-Menschheitlichen und fände ihnen eine Parabel, die zugleich scharf-konkret ist – etwa wie Kafka es geschafft hat, aber auch Beckett. Dazu bedarf es gerade der Ent-Individuation, also dem genauen Gegenteil dessen, was derzeit der narrative mainstream tut.
Und schließlich ist „die Begegnung mit der eigenen Kreativität als künstlerischer Quelle“ eine persönliche Angelegenheit, zweifellos wichtig, aber doch wohl eher eine soziale, selbstsoziale Erfahrung und hat mit Kunst wenig zu schaffen. Es geht in Kunst n i c h t – jedenfalls nicht in vorderster Linie – um so etwas wie Selbsterfüllung und/oder Selbsterfahrung. Anderes anzunehmen ist eine demokratische Sentimentalität. Allerdings g i b t es die Kunst der Bratkartoffeln, und das ist wirklich nicht die schlechteste. Pop fügt nur den Bratkartoffeln kellenweise Zucker zu… d a liegt das Problem. Kunst vielmehr – e n t z u c k e r t. Auch von „Befindlichkeiten“ der rezipierenden Subjekte.
Am 6. Juni 2007 um 22:03 Uhr
Ist Kunst empirisch oder subjektivistisch?
Am 6. Juni 2007 um 23:00 Uhr
Zeitgeist ist für mein Verständnis das Insgesamt aktueller kultureller Strömungen, nicht eine spezielle Ideologie oder gängige Meinung. Gerade im Widerstand gegen totalitaristische und faschistische Auswüchse der Jahrhundertmitte und der Gegenwart manifestiert sich der antipodische Charakter von Zeitgeistphänomenen gegenüber der Vereinnahmung durch die diktatorische Ideologie. So wird die „theory of simultaneous inventions“, die sich auch in der Kunst zeigt, verständlich. Zeitgeist hat nichts mit einer speziellen Kultur zu tun, sondern muss umfassender gesehen werden, als „Kind“ einer bestimmten Art allgemein-menschlicher seelischer Konstitution.
Ich möchte auf den Vortrag von Paul Klee von 1924, gehalten anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung moderner Kunst im Museum Jena (Über die moderne Kunst“, Benteli-Verlag, Bern) verweisen, der ganz in diesem – und ich nehme an, auch in Ihrem – Sinne ist und auf anschauliche Weise auf den Entstehungsprozess eines Kunstwerkes unter Berücksichtigung der kulturellen Quellen sowie den schöpferischen Akt eingeht.