Majakowskis Gehirn

29. Mai 2007

„Wartet mal“, sagte da Olescha. „Das ist noch gar nichts. Das Unheimlichste, Unfaßbarste bei aller Stofflichkeit habe ich gestern in der Gendrikow-Gasse gesehen, Majakowskis Gehirn. Ich sah es. Oder doch beinah. Jedenfalls wurde Majakowskis Gehirn an mir vorbeigetragen.“Und Olescha erzählte in wirrer Folge, was er später in seinem Buch „Kein Tag ohne eine Zeile“ mit einzigartiger künstlerischer Identität geschildert hat.

„Plötzlich drangen laute Geräusche aus seinem Zimmer, sehr laute, rücksichtslos laute. Es hörte sich an, als ob jemand Holz hackte. Sein Schädel wurde geöffnet. Still horchten wir, von Entsetzen gepackt. Alsdann kam ein Mann aus dem Zimmer, Krankenwärter oder Sanitäter, jedenfalls kannte ihn keiner von uns. Der Mann trug eine Schüssel, zugedeckt mit einem weißen Tuch, das sich in der Mitte zu einer kleinen Pyramide wölbte. Als ob dieser Soldat in weißem Kittel und Schaftstiefeln die Osterquarkspeise trüge. In der Schüssel lag Majakowskis Gehirn…“

Valentin Katajew
aus: „Das Gras des Vergessens“

Wladimir Majakowski 1916••• Das Verhältnis zu Bunin beschreibt Katajew ganz als eines zwischen Lehrer und Schüler, wenngleich auch befreundeten. Ganz anders ist der Ton, wenn Katajew im letzten Drittel des Buches auf Majakowski zu sprechen kommt. Ganz anders auch war das Verhältnis. Majakowski war zur Zeit ihres Zusammentreffens eine Institution in der jungen Sowjetunion. Sein Status war so marmorn, dass er sich Unangepasstheit ganz selbstverständlich erlaubte. Ein Zugstier der Dichtung, ein Alleskönner der Poesie, der über die Grabenkämpfe zwischen den ungezählten literarischen Strömungen dieser Zeit schmunzelnd hinwegsah. Ein Popstar? Vielleicht, doch einer mit Format, wie man einen heute kaum finden würde.

All die Literaten, Dichter, Theaterleute überzog er mit seinem legendären Spott. Und doch: bei aller Gegensätzlichkeit, die jene Autoren des damaligen sowjetrussischen Literaturlebens verkörperten, kamen sie doch immer wieder auch wie eine Familie zusammen. An jenem Abend im Juli 1930 beispielsweise – in Katajews Wohnung. Majakowski schrieb an jenem Abend und in jener Nacht Zettelchen mit Liebesbotschaften, die einer Schauspielerin galten, die zwischen ihm und ihr quer durchs Zimmer durch die Luft flogen und schliesslich, als Majakowski ging, zerknüllt in der ganzen Wohnung verstreut lagen.

Am kommenden Morgen erfuhren die Freunde, dass Majakowski sich mit der Mauserpistole, die er stets mit sich zu tragen pflegte, ins Herz geschossen hatte. Wie wenig Dichtung heute noch gilt, kann man ermessen, wenn man Katajews Bericht liest vom „Tag danach“. Dergleichen wäre heute undenkbar.

 

Der junge Olescha, der junge Babel, das junge Ich. Relativ jung natürlich. Wir kamen uns gar nicht mehr jung vor. Assejews zügige Zeile drückte aus, wovon wir überzeugt waren:

„Nie werden wir die Vierzig erleben.“

Aber wir näherten uns den Vierzig. Und an diesem Tag, als mit Majakowski ein großes Stück unseres Lebens von uns gegangen war, empfanden wir es besonders stark.

„Jetzt müssen wir noch fester zusammenhalten“, sprach Babel und legte mir und Olescha den Arm um die Schulter.

Zur selben Zeit lag ER in der Worowski-Straße im rechten Flügel des Hauses aufgebahrt, das Tolstoi in „Krieg und Frieden“ beschrieben hat. Dem Haus der Rostows.

Ein schmaler Saal. Ein rot ausgeschlagener schmaler Sarg, dem Wuchs Majakowskis entsprechend. Hinter dem Sarg eine Art dekorative Fläche, schwarz, viereckig, schneidende Linien, dicht überm Kopfende ansetzend und, sich verbreitend, schräg aufsteigend ins Nirgendwo. Die Konstruktion, eine Idee des LEF-Künstlers Lawinski, war wie ein jäher Blick ins Nichts, ins Bodenlose, das sich hier für immer schließen sollte.

Der flache Sarg ruhte auf einem niedrigen Postament. Darin der schlafende Majakowski, fast in ganzer Gestalt sichtbar. Die schöne Biegung seiner Hand machte glauben, die blassen Finger hätten den Füller soeben entgleiten lassen. Lang, wohlgebaut lag er da, noch jung, das dunkle Haar unnatürlich glattgestrichen – solange er lebte, war es nie so glatt. Schräg über die gefurchte Stirn und das Nasenbein lief eine frische eisenblaue Schramme, die Folge eines Sturzes, als er abgedrückt hatte und die Zielscheibe knackte und der Mechanismus zu surren begann und das Zimmer samt schwedischem Schreibtisch, Eisenbett und Leninfoto an weißer Wand zu kreisen anhub. Und nichts konnte ihm mehr helfen, nichts die unselige Tat eines Augenblicks ungeschehen machen, nicht einmal den Kopf vermochte er zu drehen, den die fürchterliche Schwerkraft der Erde an den Boden preßte. Und alles sich verwirrt … verwirrt …

An die Sargkante gestemmt seine Füße in großen gediegenen, sehr teuren Halbschuhen mit dicker Sohle und stählernen Beschlägen, zwecks Haltbarkeit, noch unlängst ein Gegenstand meines Neids. „Sind nicht totzukriegen …“, hatte Majakowski vorgestern im dämmrigen Zimmer von ihnen gesagt.

Ich stand zu Häupten in der Ehrenwache, die schwarzrote Binde am Arm. Gegenüber von mir, auf der anderen Seite des liegenden Majakowski, sah ich seine Mutter, eine kleine alte Frau, und die Schwestern in tiefer Trauer. Sie saßen auf Stühlen und sahen unausgesetzt auf den schlafenden Wolodja.

„Hallo! / Wer ist dort? Sprich! / Mutter, du? / Mutter, / dein Sohn / ist wundervoll krank. / Mutter, sein Herz ist ein brennendes Haus. / Sag den Schwestern, er wär sonst recht übel dran / und wisse nicht ein noch aus.“

Und plötzlich, alles andere überblendend, ein tränenüberströmtes Mulattengesicht. Starke Backenknochen, ein dunkler Mund. Pasternak. Seine Hände vollführten automatisch irgendwelche seltsamen Bewegungen, als wollte er sich die Brust aufreißen, den Brustkorb zerbrechen. Oder kam es mir nur so vor?

Valentin Katajew
aus: „Das Gras des Vergessens“

3 Reaktionen zu “Majakowskis Gehirn”

  1. Hilbi

    Majakowski, ein ganz großer Dichter…

  2. Hilbi

    Wenn man anfängt die Schatzgrube zu öffnen, macht man sie lange nicht mehr zu, Achmatova, Bely, Puschkin, Blok, Mandelstamm, Gogol, Zwetajewa, Dostojewski, Tolstoi, Cechov, Turgenjew, Majakowski, Tolstaja, Narbikova, Brodsky, Nabokov, Bitow, Bulgakov, Charms, Mamilejew, Jerofejew usw….die russische Literatur gehört zu der größten Schatzgrube…sie zu öffnen kann allerdings gefährlich sein

  3. Ich - so groß und so überflüssig « Turmsegler

    […] Stil ist nicht gerade begeisternd. Wenn man irgendwann zuvor Valentin Katajews Majakowski-Erinnerungen gelesen hat, muss man eine solche wissenschaftlich zusammengestellte Biographie wohl etwas trocken […]

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