Eine Erwiderung auf Markus A. Hediger: „Spiegel und Maske“
••• Von der „Sprache Gottes“ war die Rede im Gastbeitrag „Spiegel und Maske“ von Markus A. Hediger. Und all jene, die meinen Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ gelesen haben, wird es nicht verwundern, dass ich auf die Spekulationen in diesem Beitrag antworten muss. Der Roman verdankt seinen Titel einem fiktiven Kommentar des Rabbi Löw von Prag zu einem der wichtigsten Texte der jüdischen Mystik, dem Sefer Yetzirah (Buch der Schöpfung). Dieser Text beschreibt die 22 Buchstaben (Sefarim) des hebräischen Alphabets zuzüglich der 10 Sefirot (evtl. übersetzbar mit Sphären und vom gleichen Wortstamm SFR wie Buchstabe) als die Werkzeuge G’ttes bei der Schaffung der uns bekannten Welt.
Ungezählte Kommentare existieren zu diesem Buch. Und der fiktive Kommentar, dem der Roman seinen Namen verdankt, kommt zu dem kühnen Schluss, dass mittels der selben Buchstaben die Welt auch veränderbar, die Schöpfung in ihrer Existenz beeinflussbar sei. Der Erzähler des Prologs spricht ganz in diesem Sinne auch deutlich aus, welche Macht er dem Buchstaben und den daraus gewebten Erzählungen zumisst: „Was ich erzähle geschieht, nicht umgekehrt.“ Und damit spricht er mir als Autor aus dem Herzen.
Das Hebräische wird ohne Vokale geschrieben. Bei vielen Worten gibt es daher einen Deutungsspielraum, welches Wort der Autor tatsächlich zu schreiben wünschte. Es verwundert nicht, dass ein mystischer Text voll ist von solchen für die Interpretation offenen Schreibweisen. Eine dieser Stellen möchte ich in Annäherung an die Frage nach der „Sprache Gottes“ näher beleuchten, weil sie mein Verständnis von „Realität“ und Literatur, die „Realitäten“ beschreibt, ganz massgeblich bestimmt.
Ich zitiere zwei etwa gleich alte Manuskripte des Sefer Yetzirah. Es handelt sich dabei um den ersten Paragraph des Textes, und es geht mir um die letzten drei Worte. Ich zitiere die Texte vokalisiert. Es sei jedoch bereits hier darauf hingewiesen, dass die durch die Schreibweise im zweiten Zitat herausgestellte Interpretation auch im zuerst zitierten Text möglich wäre, wenn man ihn ohne Vokale geschrieben vor sich hat.
Sefer Yetzirah, Manuskript Parma 2784.14 (ca. 931), kurze Rezension
Auf zweiunddreissig wundervolle Arten der Weisheit meisselte Hashem Zebaoth, der G’tt Israels, der lebendige G’tt, hoch und erhaben, bestehend für immer, heilig ist sein Name. Er erschuf sein Universum mit dreierlei Arten von Buchstaben (Sefarim): mit Sefer (Buchstabe) und Sefer (Buchstabe) und Sefer (Buchstabe).
Sefer Yetzirah, Manuskript Oxford, Pococke 256 (ca. 931), Rezension Sse‘adya Ga‘on
Auf zweiunddreissig wundervolle Arten der Weisheit meisselte Hashem Zebaoth, der G’tt Israels, der lebendige G’tt, hoch und erhaben, bestehend für immer, heilig ist sein Name. Er erschuf sein Universum mit dreierlei Dingen: Sefer (Buchstabe), S’far (Zahl) und Sippur (Rede).
Es wird nicht verwundern, dass mich die zweite Lesart ungemein fasziniert hat und mir noch immer als die passende Lesart des Textes erscheint. Um nicht auszuufern, möchte ich den Gedankengang so kurz wie möglich umreissen.
Was immer in Buchstaben und Worte gebracht wird, hat das Potential, ebenso wirklich zu sein wie die Tastatur, auf der ich dies schreibe. (Das ist Sefer, der Buchstabe).
Wir bewegen uns in einem Raum mit einer Vielzahl potentieller Wirklichkeiten. S’far, die Zahl, bestimmt Anzahl und Gewicht dieser Möglichkeiten. Doch erst Sippur, das an ein Anderes gerichtete Wort, lässt das eben noch nur mögliche wirken.
Sippur verbindet die eine mit einer anderen Möglichkeit, macht sie so wirklich und erschafft damit unsere Welt: ein Nebeneinander ungezählter, unterschiedlich gewichteter Wirklichkeiten und Möglichkeiten. Durch die Rede – oder meinetwegen auch jede andere Art der Übermittlung an ein Anderes – beginnt die zunächst nur auf sich selbst gerichtete Einzelwirklichkeit auf das Andere zu wirken, nimmt Kontakt auf, verbindet sich womöglich oder grenzt sich ab.
Es ist nur zu verständlich, dass uns in der Literatur immer wieder die Frage der „Realität“ und ihrer Abbildung beschäftigt. Das oben Erwähnte im Sinn, gehe ich hier einen sehr vom subjektiven Verständnis von Wirklichkeit geprägten Weg.
Gäbe es so etwas wie eine objektive Realität, wäre sie doch künstlerisch nicht von Belang. Denn sie wäre nicht greifbar. Was immer da ist, schimmert nur auf im halbblinden Spiegel eines Ich. Und dieser Schimmer ist es, der wirkt. Dieser Schimmer ist, was man Wirklichkeit nennen könnte. Jeder dieser Spiegel ist blind an anderen Stellen. In jeden fällt das Licht in einem anderen Winkel ein.
Kein Ich hat ältere Rechte als ein anderes, wenn das mitunter auch behauptet wird. Treten zwei zueinander und werden Du und Ich, stehen nebeneinander zwei Welten, und keiner wüsste zu sagen, wie weit sie sich überlagern, ja ob sie sich überhaupt nur berühren. Da sind Vermutungen, im Ich andere als im Du.
Für mich ist Literatur Umgang mit den Werkzeugen der Schöpfung. Der Autor schafft eine Vielzahl Möglichkeiten und bringt sie in das Medium (Sippur), um sie zu einem Anderen zu transportieren und wirken, also zu Wirklichkeit werden zu lassen.
Was ich erzähle geschieht…
Am 13. Mai 2007 um 07:48 Uhr
Erwiderung auf Benjamin Steins „Was ich erzähle, geschieht…“…
Lieber Benjamin Zu allererst möchte ich sagen, wie glücklich ich über Deinen Beitrag bin. In vielen Punkten bringst Du darin genau und sehr präzise meine eigenen Sichtweisen und Überzeugungen zum Ausdruck. Erlaube mir aber, den…
Am 13. Mai 2007 um 10:33 Uhr
[…] Jede Implosion mündet in eine Explosion, hier die Emanation der im Sefer Yetzirah beschriebenen 32 Bestandteile des “Werkzeugkastens” aus der Mitte des Schöpfergottes heraus geschaffene Teile seines […]
Am 25. Mai 2007 um 00:32 Uhr
[…] wenigen Wochen gab Benjamin Stein einem seiner Beiträge den Titel “Was ich erzähle, geschieht”. Das ist weit mehr als eine blosse Behauptung oder Ausdruck einer Überzeugung, weit mehr als die […]