Revolte oder Exil?

9. Mai 2007

••• Alexander Nicolai verkündet angesichts der heutigen Netzliteratur die literarische Revolte, ja er meint sogar, sie sei bereits in vollem Gange. Das wäre schön, wenn es denn so wäre. Leider fürchte ich, dass hier ein Irrtum vorliegt. Anstelle der Revolte beobachte ich nur ein Ausweichen in ein anderes Medium. Die Literatur im Netz revoltiert nicht. Sie ist im Exil.

Literatur gehört gedruckt zwischen Buchdeckel. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, würde kein Autor das Weblog einem Buchvertrag mit einem Publikumsverlag vorziehen. Das Medium Weblog ist also in aller Regel nicht aus Liebe gewählt, sondern aus Not. Der Literaturbetrieb, gesteuert vorwiegend von geschäftlichen Interessen, kann bzw. will sich nicht um Nischenproduktionen bekümmern. Der Selbstverlag ist noch immer kostspielig und zudem verpönt. Das gebührenfreie Weblog ist da das Exilgelände, auf das ausgewichen werden kann ohne Gesichtsverlust. Die Sehnsucht nach der Hardcoverheimat jedoch bleibt.

Wir hoffen auf Heimkehr aus der Fremde. Und während wir warten, fallen wir auch im Gastland Websphäre nicht eben durch Innovation auf. Die Möglichkeiten der per Hyperlink verschränkten Literatur wurden in dem recht frühen Projekt „NULL“ im Jahre 1999 bereits weit besser ausgeschöpft als im durchschnittlichen literarischen Weblog heute.

Wirklich erbauend sind auch die Einblicke in die Schreibwerkstätten nicht. Wer möchte schon täglich den gleichen Betrieb besichtigen? Wer mag x Iterationen einer Produktion goutieren, dessen Endrevision schon unbekömmlich wäre, würde sie jemals vollendet? Wer mag sich denn durch drei Varianten eines 1.200 Seiten hohen Prosaberges fressen, von denen der Autor – ganz gewöhnliches Geschehen im Schaffensprozess – binnen absehbarer Frist freiwillig einen Grossteil vernichten wird? Und wer möchte fortgesetzt durch die Schweissgeruchwolken der Texttranspirierer wandern, die sich ins Weblog schwitzen, weil sie schlicht den Schnabel nicht halten können? – Keine Spur von Revolte!

Selbst da, wo das Medium uns wirklich hilfreich sein könnte, schlagen wir die hingehaltene Hand aus. Wo findet gemeinsame Textarbeit statt? Wo nehmen wir dem (gedruckten) Feuilleton die Butter vom Brot mit fruchtbaren, spannenden Debatten? Fehlanzeige auch hier.

Wollten wir mit der Revolte drohen, müssten uns zunächst einmal Zähne wachsen. Wie es jetzt aber steht, sitzt der Zar seelenruhig auf seinem Thron und lacht sich eins beim Anblick der hüstelnden Fliegen im weltweiten Netz.

16 Reaktionen zu “Revolte oder Exil?”

  1. ky

    wie traurig… wie wahr. glücklicherweise gibt es ein paar wenige ausnahmen. ich selbst gestehe nicht zu diesen wenigen, glücklichen ausnahmen zu gehören.

  2. ksklein

    toller beitrag!

  3. perkampus

    Eine Revolte halte ich in der Literatur auch nicht für notwendig, sondern im Denken.

    Dass sich ein verhältnismäßig neues Medium auch immer der Pioniere wie jener, die es aus modischen Gründen annehmen und bearbeiten, bedient, ist klar. Ich würde hier tatsächlich unterscheiden zwischen Not und dem erweiterten Begriff der Notwendigkeit. Wenn man das Weblog tatsächlich auf Verlinkungsstrategien reduziert oder auf eine Werkstatt, gehört man nicht zu denen, die das Medium umfassend nutzen.

    Richtig ist: Literatur gehört gedruckt; heute aber kann man sagen: sie gehört zwar in erster Linie gedruckt, aber sie gehört auch GEHÖRT und GEZEIGT. Trotz aller projizierbaren Nachteile sollte man jedoch auch die Vorteile in Erwägung ziehen. Ich kann nun nicht auf alles eingehen, weil das Thema Teil meiner literarischen Arbeit für Spatien 08 ist und ich nicht vorgreifen möchte.

    Was jedoch nicht mehr so stimmt, wie es hier geschrieben steht, ist, dass der Selbstverlag teuer wäre und verpönt.

    Ganz im Gegenteil wird der Selbstverlag die Zukunft der Autorenschaft sein, auch wenn – natürlich – Deutschland wieder viele viele Jahre und Erfahrungen hinterherhinkt. Und nur hierzulande ist es dann auch verpönt, sich selbst zu erschaffen. Man muss aber auch sehen: Wer verpönt? Das sind jene, die die Kanäle verstopfen, denen es nicht um Literatur geht sondern um Rendite, die dafür verantwortlich sind, dass Deutschland literarisches Entwicklungsland ist usw. Es ist also kurzum nicht von Belang.

    Der WIRKLICH interessante Punkt und meines Erachtens auch der einzig Tragbare ist das Verhältnis zwischen Autor und Leser.

    Ein Autor, der sagt, er schreibe für sich, lügt oder redet dummes Zeug. Ein Autor will gelesen werden und der Leser sucht sich seine Themen. Wenn ein Autor sagt, er schreibe für sich, dann sage ich: Gut, dann lese es auch für dich.

    Das Weblog kann nun eine schnellere Brücke bilden als das verwirtschaftete Buch. Noch ist nur ein geringer Teil der Bevölkerung an einem Netzleben beteiligt, aber auch das wird sich in den nächsten Jahren massiv ändern. Die Frage wird dann sein: Was bietet der Autor an und wie findet der Leser den für ihn interessanten Autor.

    Darin würde ich die beklagte Revolte sehen, aber keine literarische, sondern eine kommunikative.

  4. Benjamin Stein

    Man muss aber auch sehen: Wer verpönt? Das sind jene, die die Kanäle verstopfen, denen es nicht um Literatur geht sondern um Rendite, die dafür verantwortlich sind, dass Deutschland literarisches Entwicklungsland ist usw. Es ist also kurzum nicht von Belang.

    Bedauerlichweise ist es von Belang. Weil diejenigen, die verpönen, meinungsbildend sind. Ein im Selbstverlag erschienenes Buch gilt nicht als Veröffentlichung, weil Veröffentlichung (durch einen properen Verlag) auch gleichgesetzt ist mit 1) qualitativer Filterung und 2) professioneller Produktion des Buches als literarisches Endprodukt. Beides kann man den Verlagen nicht wirklich absprechen. Sie nehmen eine Filterfunktion wahr: Schund wird nur gebracht, wenn er sich gut verkauft. Damit bleibt 95% im Abraum zurück. Mit der professionellen Produktion klappt es für den verbleibenden Rest dann auch.

    Im Selbstverlag fällt der Filter weg. Bleiben als Verhinderungsgründe einer Buchwerdung nur noch die Zaghaftigkeit des Autors, Finanzen oder faktische organisatorische Unfähigkeit – alles Dinge, die mit Literatur nichts zu tun haben. Wie es dann um die Professionalität der Produkte steht? Lektorat ist kein Kinderspiel. Professioneller Satz und gekonnte grafische Gestaltung ebenfalls nicht. Man muss also auch bei der Herstellung mit minderer Güte rechnen.

    Worauf will ich hinaus? Die Häme zu entkräften, ist nicht leicht.

    Wird ganz ohne Filter der Leser „seinen“ Autor inmitten des Abraums finden? Wird dieser Leser damit leben wollen, Bücher voller Druck- und sonstiger Fehler vorgesetzt zu bekommen?

    Und noch ein Gedanke: Wenn das Weblog als Kommunikationsinstanz zwischen Autor und Leser gesehen wird, kann das funktionieren bei 5 Lesern, auch bei 100 noch. Hast Du – Gott behüte – um die 500 Leser, wird die Kommunikation allerspätestens zum Monolog verkommen und Dein Weblog zur Peepshow oder Selbstbewerbungsplattform.

  5. Biggy

    Einige gedankliche Überschneidungen treffen sich mit meinen Überlegungen, mit denen ich noch nicht abgeschlossen habe. Ich bin ständig hin- und hergerissen zwischen dem Für und Wider des Nutzens eines künstlerischen Blogs. Vielleicht gibt es auch gravierende Unterschiede zwischen bild- und wortausgerichteten Blöggen. Der jetzige Zustand befriedigt mich nicht.

    Ich finde, dass Alex in seinem Programm genau das Potential anspricht, was eigentlich in der Bloggosphäre möglich wäre/ ist, was aber, wie Herr Stein hier auch anmerkte, überhaupt noch nicht effektiv genutzt wird.

    Buch und Blogg kann man nicht vergleichen. Und ich sehe die Potenzen (wie Michael) in der gegenseitigen Ergänzung, vielleicht sogar der wechselseitigen Befruchtung dieser Medienarten, deren Grenzen nun eigentlich verschwimmen könnten.

    Die Ausarbeitung von gemeinsamen Webprojekten könnte z.B. als Rohmaterial für ein gemeinsames Printobjekt dienen.

  6. ANH

    Die Literatur im Netz revoltiert nicht. Sie ist im Exil.

    Auch das nicht. Sie >>>> e v o l i e r t (der verlinkte Beitrag und die dann folgenden skizzieren den Vorgang – oder versuchen es doch).

  7. perkampus

    ANH’s Theorien des literarischen Bloggens halte ich übrigens für maßgeblich als Schritt zu einer grundsätzlichen Ästhetik.

  8. Benjamin Stein

    Vielleicht kann man ANH für einen Gastbeitrag gewinnen. Bis zum Wochenende allerdings hat er ohnehin anderes zu tun…

    Tatsächlich meine ich, dass sein Weblog-Konzept über das in meinem obigen Beitrag Beschriebene hinausgeht. Ebenso meine ich allerdings, dass die Reflektion des Schaffensprozesses in der Literatur ein eher ermüdetes Sujet ist, das auch durch das Medium Weblog keine frischroten Bäckchen mehr bekommt. Aber da spricht der Lyriker in mir, nach dessen Geschmack die Dichtung endet, wo die Reflektion beginnt.

  9. perkampus

    Dem widerspräche die mannigfache Sekundärliteratur, auch die Tagebücher. Freilich ist es etwas anderes, ob ich diese Aufzeichnungen von Cocteau lese oder von Ichleb Imdorf.

    Gerade aber in der Lyrik sind Schaffensprozesse meist nicht uninteressant, auch hier gibt es printed Beispiele genug, nicht zuletzt die Faksimiles von Peter Rühmkorf.

    Es mag allerdings sein, dass ein angenommener Otto Klickdieblogs lieber bei Schlagsätzen oder Artikeln hängen bleibt, die ihn angehen.

    Ein ebenfalls nicht zu unterschätzender Gedankengang ist der des Zumutbaren, damit meine ich vor allem Textlänge. Es dürfte klar sein, dass den Reiz eines Weblogs nicht die 30-Seiten-Erzählung ausmacht. Ich selbst erkenne jedoch bei mir einen Hang zum Sequel (der Leserschaft), die Entstehung eines Romans (wie es eben teilweise bei ANH stattfindet) ist ein weiteres großartiges Zeugnis dafür, dass es eben nicht uninteressant ist, dass man weiss: während er (der Autor) diese Passage schrieb, trank er eine Tasse Kaffee und betrachtete einen Baum, der gerade gefällt wurde etc.

    Ich selbst war stets ein Mensch, den Prozesse unzweifelhaft mehr interessierten als ein vermeindliches Produkt, auf das sich der Autor dann mit sich selbst einigt. Die Dynamik eines solchen Prozesses ist stets das Erstaunliche.

    Und da sagte Alexander Nikolai (als Gast für den Pod) zu mir den Satz, den ich unterschreibe: Nicht das Produkt ist die Kunst, sondern der Weg dorthin, quasi der Jetzt-Akt.

  10. Benjamin Stein

    Den von Dir beschriebenen Reiz verstehe ich voll und ganz aus der Warte des lesenden Autors. Der andere Schaffensprozess kann da zum Identifikationsvehikel werden. Trifft das aber allgemein auf „den Leser“ zu? Und – um den Faden weiterzuspinnen – wenn das literarische Weblogs so interessant macht, ist das vielleicht Hinweis darauf, dass sie nur von anderen Autoren und Schreibfreudigen gelesen werden?

    Das ist tatsächlich eine wichtige Frage: Erreichen wir überhaupt die potentielle Leserschaft ausserhalb des eigenen Gildenumkreises?

  11. perkampus

    Ich glaube, dass sich diese Frage definitiv mit Nein beantworten lässt, da müssen wir uns nichts vormachen. Aber ich sehe das Netz gegenwärtig immer noch als eine Steinzeit-Variante des Machbaren. Die Rezeptionsästhetik ändert sich ja bereits, auch bei hauptsächlich „nur-lesern“. Die Art, wie gelesen wird, ändert sich im gleichen Masse, wie Informationen angeboten und verwertet werden. Wenn das 19. Jahrhundert das der Literatur war, das 20. das des Films, wird das 21. unzweifelhaft den multimedialen Spielen gelten. Dabei ist zu erkennen, dass kaum eine Kunstrichtung verschwindet, vielmehr vermischen sich die Genres. Musik, Literatur, Malerei, Philosophie, das hat sich seit jeher ineinandergeschoben. Netzliteratur war ein krasser Aussenseiter (damit meine ich nun nicht das Schreiben im Netz, sondern die Versuche, Informationen im Broadbandverfahren und im Socialweb zu vernetzen), der sich jedoch in der Programmierung durchaus bewährt.

    Bei allem, was wir Autoren im Netz tun, steht an erster Stelle der Reiz.

    Bieten wir lediglich Elemente unserer Erzählungen und Gedichte an, dürfte dieser Reiz eher gering sein, verknüpfen wir jedoch eine neu gefundene Form mit einer Art umfassender Literarisierung eigener Reize (Leseerlebnisse, Netzerlebnisse, Schaffensprozesse, Tagesgeschehen, Diskussion, aber auch: Podcast, Videocast, Bildmaterial), geben also auch dem Leser einen Bezugspunkt, in dem er, so gewollt, direkt diese unsere Reize beeinflusst, event. durch Kommentare, haben wir einen Schritt hin zu dieser neuen Ästhetik getan und verlassen dennoch die traditionellen Gefilde nicht für immer.

  12. Benjamin Stein

    DAS ist nun allerdings ein interessanter Ausblick…

  13. Biggy

    Mir schwirren ein paar unausgegorene Gedanken dazu im Kopf herum.

    Ich weiß ja nicht, wie andere es sehen- ich fand die beiden Versuche von Michael mit Gleichgesinnten ein Labyrinth von Möglichkeiten und Vernetzungen aufzubauen, gut., auch wenn es aus unterschiedlichen Ursachen zum Erliegen kam.

    Meine persönlichen Ansprüche an Interaktion im Netz beziehen sich auf Erleben und Erkennen.

    Gemeinsam an einem einem Projekt zu arbeiten und dabei ein Thema aus unzähligen Positionen heraus zu umkreisen (aus Richtung Kunst, Kultur, Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Musik usw.), mit den unterschiedlichsten Methoden zu erschließen, dabei fachliche Grenzen zu überschreiten, stelle ich mir spannend vor… die Geburt eines Gesamt(kunst)werkes. (nicht nur in Bezug auf Kunst und Literatur) So ähnlich schwebte es uns ja schon länger vor…

    Das ist ja an sich nichts gänzlich neues, nur braucht es dazu Gleichgesinnte mit ähnlichen Möglichkeiten und Durchhaltevermögen, vielleicht zeitlich begrenzt und thematisch von vorneherein etwas eingegrenzt (und nicht zu schwierig im technischen Bereich… wenn ich dabei an mich denke ^^)

    Jeder hat mit seinem eigenen Kram zu tun aber es gab/ gibt des öfteren Themen, die ineinandergreifen- und bei denen es schade ist, dass sie in getrennten Blöggen verbleiben. Auch das ist eine der Möglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft wurde.

    Ich könnte mir auch vorstellen, aus bereits fach(disziplin)überschreitend vorliegendem Material einmal aller 6-12 Monate einen thematischen Zeitschriften – Blog zusammenzustellen- ausgerichtet nicht wie eine Fachzeitschrift sondern wie eine Art Universalblog mit diesen o.g. Grenzverwischungen. (interdisziplinär) Was gut ist, Substanz hatte, stellt sich oft erst mit zeitlichem Abstand heraus. Und erst dann, wenn man sich einen Überblick verschafft und das ganze etwas aufgearbeitet hat.

    Diese Arbeit schwebt mir früher oder später, für mittel- und langfristige Zeiträume vor. Sie muss abgesprochen und mal erprobt werden.

  14. perkampus

    Damit kommen wir ja schon wieder weit vom Thema ab.

    Gemeinschaftsprojekte unter Autoren funktionieren nicht. Sie funktionieren deshalb nicht, weil es, was mich betrifft, zu viel Zeit in Anspruch nimmt und ich dadurch Stimmungen unterworfen bin, die mich von meiner eigentlichen Arbeit abhalten. Dass jemand, in diesem Falle du, Collagen zu meinen Gedichten anfertigt, ist eine Zusammenarbeit, die auf Inspiration und Anregung fusst. Diese darf und soll durchaus auf den jeweiligen Blogs verbleiben. Das Prinzip des Verlinkens ist in diesem falle wesentlich effektiver. Nun kann man sich das weiter vorstellen, dass jemand die Kostüme schneidert, jemand einen Film dreht, jemand den Soundtrack schreibt und ein anderer Bier holt.

    Spannender als das sind besagte Reize, und die Kooperation untereinander besteht aus diesen Reizen, durch Kommunikation, die dann jeder in seine eigene Arbeit hineinträgt.

  15. Biggy

    ich brüte ja an mehreren ideen. wenn nicht alle realisierbar sind, ist das nicht dramatisch, zumal m an mit der zeit haushalten muss.

    das, was du unter kreativer befruchtung erläuterst, sehe ich nicht anders- sehen wir schon teilweise in den täglichen oder wöchentlichen beiträgen der im metablog verlinkten mitglieder und gäste. das ergibt sich spontan und das finde ich klasse.

    einer der ideen war ja auch, diese befruchtungsergebnisse irgendwann einmal in einem ergebnis- gemeinschafts-blog zu posten, der solche verknüpften themen aus den verschiedenen blogs noch einmal zusammenstellt. (befreit vom ballast und überlebtem) das hätte den vorteil, eine art von gesamtkunstwerk zu erfahren, daraus ergeben sich vielleicht aufgrund der anderen art von rezeption auch neue ideen für die weitere arbeit. ich gewinne eine andere sicht dabei.

    ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, weil ich ein optisch ausgerichteter typ bin: ich verliere zusammenhänge und genuss beim durchklicken. es ist so, als hätte ich aufgrund der themenaufspaltung in blöggen einen unendlichen stapel dicker bücher verschiedener machart vor mir, die an einer einzigen, winzigen stelle mal das thema berühren, das mich gerade interessiert.

    ich finde es jetzt auch unpraktisch, genusshinderlich, den text da, das tonwerk dort, den kommentar da und das bild oder einen verweis hier zu haben. (zum zeitpunkt der erstbaearbeitung nicht) mir wäre es lieber, ich könnte die verschiedenen herangehensweisen, die sich in der teils spontanen arbeit, teils in geplanter vernetzung und teils auch in der nacharbeit ergeben, irgendwann einmal zur gewinnung eines gesamteindrucks auch an einer stelle wahrnehmen.

    das würde wie ein buch funktionieren, das sich thematisch spezialisiert- aber nicht so, wie wir es in der regel kennen: ausgerichtet auf eine kunstgattung oder eine kunstdisziplin.

    ich bin gleichermaßen an kunst, literatur, wissenschaft, philosophie usw. interessiert. und in diesem ergebnis-blog finde ich dann alles.

    bsp.: eiszeit- du findest im eiszeitblog dann stimm- und geräuschaufnahmen aus der artiks (o-ton oder künstlich erzeugt), dazu liest du ein gedicht von michael, siehst eine grafik von kerstin, eine collage von biggy, einen reisebericht von markus, eine story von susanne, eine fiktion von andre, einen wissenschaftlichen forschungsbericht von hinz, einen song von kunz, aktfotos von dir im schnee, eine philosophische betrachtung von herbst, hörst ein feature von herrn stein und co., ein märchen der inuit, einen bericht zum iglubau von bruno, verfolgst ausgrabunggeschichten und erfährst etwas über die datierung von stücke, eine liebesgeschichte von marcella, rezepte usw. usw.

    ich buddle mich gern umfassend durch ein thema und finde es von allen ebenen aus betrachtet, spannend, wenn mir nicht unzählige fachwörter an den kopf geknallt werden.

    ja, es ist alles unausgegoren- aber es ist schon einiges davon da. und: es ist spontan entstanden, mitunter unbewusst.

  16. Alexander Nicolai

    da weiß man kaum, wo man anfangen soll, zumal nicht, wenn man zu spät kommt, und dann auch noch ausgerechnet am „Tag des Buches“ – nun: es geht um Literatur. Nicht um Bücher, es geht um Kunst. Und nicht deren Absatz.

    Eine der zentralen Fragen zeitgenössischer Kunst, allen der voran der Bildenden ist die Frage nach Sinn und Grenze des „White Space“, ausgehend von der Rahmeninszenierung, den weiß getünchten Räumen der Galerien und Museen. Aber der „White Space“ ist mehr, er ist auch Synomym für das Atelier, die Inszenierung des Schaffens, und Synonym für die Klientel, den Club, die Community.

    Das ist auch bei uns Schrifttreibenden so, der Unterschied liegt in der Auffassung des „White Space“, bei uns ist es das Papier. Die Linearmaster-Matrix, des Schreibens, von links nach rechts (oder auch von rechts nach links), Einzug, nächste Zeile. Unser „White Space“ ist Synonym für ein ganzes Regelwerk. Entscheidend ist aber was hinter dieser schmalen Ordnungsraster lauert, dieses unfassbare Ding Literatur, das uns aus Augen ansieht, die so groß sind, dass uns unter ihren Augen kein geschriebener Satz perfekt genug ist.

    Kunst ist nicht das Produkt, sondern sein Prozess, und auch Literatur ist ein Prozess, keinesfalls aber das Buch, das Produkt. Das Buch ist nur ein Sublimationsformat der Literatur.

    Wie aber auch der „White Space“ die Kunst, verdrängt (!) das Buch die Literatur.

    Schauen wir doch mal, was wirklich gelesen wird:
    Einen Moment bitte, ich klicke weiter:
    Spiegel-Bestsellerliste von heute, dem „Tag des Buches“, mja Paperpack:
    Platz 1) „Eisfieber“ von taaraa -> Ken Follett
    Platz 2) „Zusammen ist man weniger allein“ (seufzjaja) von Anna Gawalda (wer zum Geier…?)
    Platz 3) „Der Außenseiter“ von Minette Walters, wie auch immer: Krimi
    Dann Platz 4) Sie erwartet „Die Dunkle Seite“ von Trommelwirbel (gepitcht) Frank Schätzing? War da mal was? Ja, da war was.
    Lbnl Platz 5) „Hektors Reise, oder die Suche nach dem Glück“ (Schublade Optimismusliteratur (früher Durchhaltepropaganda) links neben Coelho, Paolo. Der Verfasser heißt Francois Lelord und ist Psychiater, lehnen Sie sich zurück, entspannen Sie sich, wir sind alle ein bisschen Bluna.

    Im Hardcover?
    1) Tanöd – Andrea M Schenkel – Krimi
    2) Vergiss mein nicht – Cecilia Ahern (da war was)
    3) Die Kinder Hürins – J RR Tolkien (oh ja, da war wirklich mal was)
    4) Tender Bar – JR Moehringer – Kindheitsblubberlutsch
    5) Die Vermessung der Welt – Daniel Kehlmann (ob da je was wird?)

    Das sind die Kategorien, wo man Autoren nicht mehr Not-Leiden sieht.

    Aber im Klartext: „diese“ Leserschaft liest Variationen der klassischen Themen und sie liest der speziellen Unterhaltung wegen. Und auf und durch und über die Märkte hinweg in die Verlage und Buchhandlungen hinein bestimmt deren Auffassung von Buch, was ein Buch zu sein hat, wer mag sich anschließen? Wer nicht? Wer begibt sich auf die Suche nach neuen Wegen und Medien? Nach anderen Möglichkeiten?

    Ich schrieb von einer Revolte, Benjamin Stein von einem Exil, und ANH ganz richtig stellend von Evolution statt Revolution, tatsächlich beleuchten wir aber dasselbe Phänomen, Literatur mit dem Netz, nur eben jeder aus seiner ganz bestimmten Perspektive.

    Als Künstler sehe ich hier vor allem interessante, weit reichende Möglichkeiten ästhetischer Gestaltung. Als denkender Mensch natürlich auch das Drumherum, Fragen nach Quantitäten und Qualitäten, Reichweiten und Klicks, und immer wieder Elegien brotloser Kunst.

    Allein interessiert mich die Brotlosigkeit (und zwingender Weise damit auch die Brothaftigkeit lol) von Kunst wenig, mich interessieren Intensität und Intention eines Werkes.

    Ein sehr subjektiver, in seiner Allgemeinheit aber schon fast wieder objektiver Maßstab dafür ist der „Knalleffekt“, dass Überführen zweier Spannung in eine andere. Wie, auf welche Weise ein Werk, ein Text knallt, ist dabei zweitrangig. Der Knall kann ein leiser sein, ein stilistischer, ein eruptiver, nur knallen muss er, die Spannungen müssen stark genug sein, ihre Entladung muss einen Eindruck hinterlassen. Auf dieser Ebene erst kann man wirklich von einer Auseinandersetzung zwischen Text und Leser sprechen, wenn der Text das Bewusstsein des Lesers ergreift. Ich stimme Perkampus zu in seiner Forderung nach einer Veränderung, einer Revolution des Denkens, und sehe die Möglichkeit dieser Veränderung in verbundener Umgebung einer solchen Entladung. Für viel entscheidender jedoch als qualitative und quantitative Fragen scheinen mir die Kraftverhältnisse der Spannungen zwischen Text und Leser zu sein, und als Schrifttreibendem bleibt mir da als einzige mitwirkende Option die Manipulation der Ausgangsspannung des Textes, des Textwerkes.

    So stellt sich aus meiner persönlichen Perspektive jene Herausforderung dar, die ich im Ausgangstext nannte, die Herausforderung die Möglichkeiten auszuschöpfen, ohne Sinn und Form zu verlieren, gleichermaßen virtuos und souverän schreibend aus einem Weblog o.ä. ein literarisches Werk zu machen.

    Wie, das entscheidet freilich jeder selber, aber gerade die unterschiedlichen Ausführungen und Ansätze geben dem Ergebnis ja auch einen gewissen Reiz. Das ist es ja, was litblogs.net und die Lärmende Akademie so interessant macht.

    Um jedoch auf die Revolte zurückzukommen: auch diese ist in meinen Augen eine Frage der Spannungen. Diese Spannungen sind die des Autors, die er durchlebend als Text sublimiert, und diese Texte treffen auf die, größtenteils auf Erwartungen basierende Spannungen der Leserschaft.

    Benjamin Stein spricht vom Exil, aber dieses Exil kann kein Exil der Literatur sein, nur das Exil einer Heimat von Literatur. Darin bestätigt sich aber schon ein Anspruch an Revolte, das Einfordern einer Heimat nämlich. Was dem einen Exil ist, ist dem anderen aber schon das Land der unbeschränkten Möglichkeiten, beide aber revoltieren, letzterem ist es sogar aufgetragen, mitgegeben, denn nur die Tragkraft revolutionierenden Denkens wird sich dieser Möglichkeiten überhaupt bedienen können.

    Wie ich auch gegen Schluss meines Ausgangstextes erwähnte, ist Hypertext ein junges Phänomen gegenüber dem, was unsere Definition, unseren Kanon der Literatur bestimmt, andererseits handelt es sich da eben auch um die Größe der als Literatur gelebten Lebenszeiten. Es ist lächerlich früh, über Hypertext abschließende Urteile fällen zu wollen, es käme einem Fünfjährigen gleich, der einen Rentenbescheid anfordert. Dazwischen liegt aber noch ein aufregendes Leben, und eben das haben wir zu gestalten. Literarisch.

    Und nun, ANH, falls sie das lesen sollten: Revolte trifft hier den Anspruch zu sein, im grenzenlosen Exil, den sie fordert die Autorität Literatur zu definieren, und sie fordert sie von den Printern zurück. Erreicht die Legitimation dieser Autorität ein ernstzunehmendes qualitatives und quantitatives Niveau, ändert sich der Literaturbegriff auch nach außen.

    Vorausgesetzt dieses Niveau wird erreicht. Das hängt natürlich von uns ab.

    Wie dem auch sei, hier findet Evolution statt. Friss oder stirb, der Stärkere setzt sich durch, bildet Gruppen, Macht und macht das Beste draus.

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