Verwandlungen

16. April 2007

Gertrud Kolmar

Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
Mit ihrem weißen Stern, mit ihrem grauen Fluch,
Mit ihrem wehenden Zipfel, der die Tagkrähen scheucht,
Mit ihren Nebelfransen, von einsamen Teichen feucht.

Ich hing im Gebälke starr als eine Fledermaus,
Ich lasse mich fallen in Luft und fahre nun aus.
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.

Über den stumpfen Türmen sind Himmelswipfel schwarz.
Aus ihren kahlen Stämmen sickert gläsernes Harz
Zu unsichtbaren Kelchen wie Oportowein.
In meinen braunen Augen bleibt der Widerschein.

Mit meinen goldbraunen Augen will ich fangen gehn,
Fangen den Fisch in Gräben, die zwischen Häusern stehn,
Fangen den Fisch der Meere: und Meer ist ein weiter Platz
Mit zerknickten Masten, versunkenem Silberschatz.

Die schweren Schiffsglocken läuten aus dem Algenwald.
Unter den Schiffsfiguren starrt eine Kindergestalt,
In Händen die Limone und an der Stirn ein Licht.
Zwischen uns fahren die Wasser; ich behalte dich nicht.

Hinter erfrorener Scheibe glühn Lampen bunt und heiß,
Tauchen blanke Löffel in Schalen, buntes Eis;
Ich locke mit roten Früchten, draus meine Lippen gemacht,
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.

Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

••• Gestern war Yom Ha-Shoah, der Gedenktag für die Opfer der Shoah. Gertrud Kolmar wurde 1943 deportiert und kehrte nicht zurück.

Am 3. März 1951 reiht sie das Standesamt Berlin-Schönefelde als „Gertrud Chodziesner, ohne Beruf, ledig, deutscher Staatsangehörigkeit, zuletzt wohnhaft in Berlin-Schöneberg, Speyrer Str. 10“ in die Liste der sechs Millionen ermordeter Juden ein. Unter der Nummer 52095 wird sie für tot erklärt.

Ulla Hahn
aus dem Nachwort der zitierten Ausgabe

Eine Reaktion zu “Verwandlungen”

  1. Hilbi

    Vor lauter Schweigen möchte man sein eigenes niederbrüllen….es wird zu viel geschwiegen und zu viel an den falschen Stellen geredet, kann das sein, oder habe ich nur schlechte Laune, aber wie kann man bei so einem Gedicht schlechte Laune haben, es ist ein sonderbar schönes, es nimmt Gestalt an in dem Moment in dem man sich selber öffnet.

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