Arsen, in gewissen Abständen

15. April 2007

Ich bin abgerufen worden in das Ärztezimmer, wo der Gerichtspsychiater wartete. Schwester Friedel hat mich hingebracht und mir vor der Türe noch einmal einen tröstlichen Schlag versetzt: „Nur Mut, mein Kind, er wird sie nicht fressen. Lassen Sie sich bloß nicht bange machen.“ … Aber ich war ja in keiner Weise bange und konnte mir überhaupt nichts rechtes vorstellen. Der Primarius war da und die Oberschwester – auf deren aufgeregtes Geflatter ich allerdings gern verzichtet hätte – und dann ein fremder, kleiner, glatzköpfiger Herr, dem ich nun nachträglich innig wünsche, daß er eine Tochter hätte, die nach einem Selbstmordversuch von einem Gerichtspsychiater drangsaliert wird. Aber diese wäre ja eine Dame, und es würde sich so wohl von allem Anfang an alles anders gestalten. „Das ist also die Person?“ war das erste, was ich von ihm hörte. Der Primarius lächelte ein bißchen schief, es war ihm wohl nicht ganz angenehm, daß es so begann. „Sie haben sich also das Leben nehmen wollen. Möchten Sie uns nicht sagen, warum?“ Die Oberschwester hüpfte an das Fenster und sah mich von dort her bohrend an, der Primarius lächelte immer noch auf den Boden hin, und in der Glatze des Kleinen spiegelte sich höhnisch die Schreibtischlampe. Ich habe gelacht. Es war ein blödes und sicher sehr widerliches Lachen, und ich begreife, daß es nicht dazu beitrug, mich dem Kleinen sympathischer zu machen. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagte er böse, und zum Primarius: „Ist sie überhaupt vernehmungsfähig?“ … Der sah daraufhin einen Augenblick eigentümlich auf und sagte: „Ich denke schon.“ … „Also bitte!“, bohrte das Scheusal ungeduldig weiter. Ich sagte stur: „Ich mag einfach nicht.“ … „Aber sie müssen doch einen Grund dazu haben. Wahrscheinlich hat sie der Freund verlassen, und es war nicht gleich ein anderer da, wie?!“ … „Es war überhaupt nie einer da.“ … „Ach so, na schön, aber nun erzählen Sie mir einmal, wie es zuhause zugeht. Sie haben ja noch Eltern, was sagen die, wenn sie solche Sachen aufführen? Wie?“ … Hier warf der Primarius etwas von Not und Elend ein, was natürlich übertrieben ist, aber entweder hatte er von meinen Andeutungen tatsächlich dieses Bild bekommen, oder er wollte mir einfach ein bißchen helfen, Der Kleine fragte zu ihm: „Aber warum arbeitet sie eigentlich nicht? Wenn sie auch etwas schwächlich zu sein scheint, so könnte sie immerhin einen leichteren Posten ausfüllen, und Arbeit vertreibt alle Dummheiten, die diese jungen Damen da im gewissen Alter manchmal ankommen. Von der Schule heraus auf einen ordentlichen, strengen Dienstplatz ist immer noch das beste Mittel gegen Hysterie. Na vielleicht haben Sie sie in einem Jahr so weit, daß man sie dann wo unterbringen kann.“ … „Sie will ja nur dichten.“ sagte da die spitze Stimme vom Fenster her. Alle lachten, warum hätte ich nicht auch lachen sollen? … „Ja, meine Teure –“, sagte da der Kleine, „diese Gewohnheiten wirst du dir freilich abgewöhnen müssen. Düchten mit Umlaut ü, gelt, wahrscheinlich kann sie nicht einmal ordentlich rechtschreiben, aber dichten will sie! Sehen Sie, Kollege, solche Geschichten kommen heraus, wenn jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprößlinge in Hauptschulen und so schicken zu müssen. Also, mein Kind, das Düchten überlaß du schön anderen Leuten, und wenn dich der Herr Primarius wieder zur Vernunft gebracht hat, so nach ein, zwei Jahren, dann sei froh, wenn du eine Gnädige bekommst, die dich zu allem Häuslichen ordentlich abrichtet. Verstanden?“ Ich war brennrot vor Wut, der Primarius dachte wohl, vor Angst, denn er hob heimlich unter dem Tisch sechs Finger hoch und meinte damit, dass ich ja nur die sechs Wochen für die Arsenkur hier bleiben brauche. Nein, ich sehe es schon ein, daß er es mir nicht leichter machen konnte, denn da die Gemeinde für die Kosten hier aufkommen muß, wird sie auch die entsprechende Unterlage und Bestätigung haben müssen, daß ich auch tatsächlich verrückt bin. Nun, das kann lieblich werden, wenn ich wieder heim komme. Aber damit mußte ich schließlich rechnen, als ich um Aufnahme hier ansuchte. Was habe ich eigentlich davon erwartet? Heilung wovon? Dachte ich wirklich, daß so und so viel Arsen, in gewissen Abständen eingenommen, meinem Leben einen Sinn geben würde?

Christine Lavant, aus:
„Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“
© Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien 2001

••• Die passende Dosis Arsen zur Heilung solcher Umstände kann ich mir nur gross vorstellen. Ich erinnere mich an ein ganz anderes Gespräch mit einem Psychiater, das ums gleiche Thema kreiste.

A: Wollten Sie denn wirklich sterben?

B: (nach einer Pause) Ja.

A: Aber Schmerztabletten sind nicht wirklich tauglich dazu. Sie greifen nur den Magen an.

B: Und betäuben den Schmerz.

A: Ich muss Sie das wirklich noch einmal fragen: Wollten Sie wirklich sterben?

B: (nach einer weit über das Erträgliche hinaus gedehnten Pause) Nein. – Es geht nur nicht so!

A: Ich sage Ihnen jetzt einmal etwas – ganz im Vertrauen: Mit Ihnen ist alles, aber wirklich alles in bester Ordnung. Ganz egal, was man Ihnen da draussen wahrmachen möchte, machen Sie weiter. Schreiben Sie, leben Sie, seien Sie, wie Sie sind. Es ist alles in Ordnung damit.

Spätsommer 1988, Ost-Berlin. Manchmal und für manchen geht es gut aus. Für manch andere nicht.

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