Nun war die Sonne auf der Welt. Und im Wasser schwammen die Fische, und in der Luft flogen die Vögel, und unzählige Tiere gab es auf der Erde. Aber keines der Tiere bedankte sich für die Sonne. Das gefiel den Göttern gar nicht.
„Wir werden Menschen schaffen“, beschlossen sie. „Sie werden uns nicht enttäuschen.“ Und so geschah es.
Der blaue Gott Tlaloc machte sich sogleich ans Werk. Er nahm Lehm und schuf daraus einen Menschen. Doch nicht umsonst heißt es: „Gut Ding braucht Weile.“ Der Lehmmensch, den Tlaloc geschaffen hatte, konnte nicht einmal aufrecht stehen, und kaum war er in eine Pfütze gerutscht, da löste er sich auf. Da lachte Xipe Totec und sagte kühn: „Wie kann man Menschen aus Lehm machen. Schaut her, meine Menschen werden bestehen und sich nicht auflösen!“
Und schon nahm er ein Messer zur Hand, schnitt damit einige Äste ab und schnitzte aus den Ästen Figuren. Sie lösten sich nicht auf. Also liessen die Götter sie leben.
Aber die Holzmenschen verhielten sich wie Marionetten. Ihre Gesichter zeigten kein Lächeln, ihre Augen weinten keine Tränen, – sie prügelten ihre Hunde, sie ließen die Töpfe und Pfannen so lange auf dem Feuer, bis sie anbrannten und schlugen mit Stöcken und Steinen derart aufeinander ein, daß ihre Holzglieder zerbrachen.
Die Götter schauten den Holzmenschen eine Weile zu. Sie gefielen ihnen nicht. Und die Holzmenschen nahmen auch bald ein schlechtes Ende. Eines Tages war es so weit. Alle Tiere, Töpfe, Stöcke und Steine sagten den Holzmenschen den Kampf an. Sie entzündeten große Feuer und trieben die Holzmenschen in die Flammen hinein und ließen sie zu Asche verbrennen.
Darauf sagte der schwarze Gott Tezcatlipoca: „Lehm und Holz gibt es genug auf der Welt, deshalb werden wir daraus auch keine Menschen mehr machen. Gold ist das Wertvollste, wir machen Menschen aus Gold.“
Und Tezcatlipoca schuf seine Menschen aus Gold. Es waren ihrer nicht viele, doch sie strahlten so hell, daß allen die Augen übergingen. Und weil ihr Gott unentwegt auf ihre Schönheit achtete, dienten ihnen alle Tiere in Angst und Furcht.
Tezcatlipoca hatte Freude an seinen Menschen, die geehrt und geachtet wurden. Aber eines Abends sagte der weiße Gott Quetzalcoatl: „Die Welt braucht deine Aufgeblasenen, deine Goldenen nicht! Sie rühren keinen Finger und lassen die Tiere für sich arbeiten. Die rechten Menschen müssen sich das Leben durch eigene Arbeit verdienen. Solche Menschen werde ich schaffen!“
Und er machte sich ans Werk. er knetete aus weißem und gelbem Mais eine Masse und schnitt sich in den kleinen Finger, damit sich sein Blut mit der Masse vermische. Dann modellierte er sorgfältig den Rumpf, den Kopf und alle Glieder. Der Mensch war fertig. Nun hauchte ihm sein Schöpfer das Leben ein, und Morgenröte strahlte am Himmel. Der neue Tag begann.
Seit dieser Zeit leben die Menschen auf der Erde, Menschen aus dem Blut des Gottes Quetzalcoatl… Indianer.
Sie jagen und bebauen ihre Felder, und wenn sie sich keinen Rat wissen, fragen sie ihn, ihren Schöpfer.
Doch noch so manches Mal treffen sie die aufgeblasenen Goldenen. Dann müssen sie ihnen dienen, aber die Goldenen werden weniger und weniger; und sie, die Indianer, werden mehr und mehr.
aus: „Die fünfte Sonne“
Indianerlegenden Mittel- und Südamerikas
Nacherzählt von Vladimir Hulpach
mit Illustrationen von Miloslav Troup
••• Die Legende berichtet, dass Tezcatlipoca, der schwarze Gott und Schöpfer der goldenen Menschen, schliesslich durch eine List über Quetzalcoatl triumphierte. Dieser musste seine Geschöpfe verlassen. Er verwandelte sich in eine gefiederte Schlange, flog über Land und verschwand schliesslich über dem Meer.
Seit jener Zeit warten seine Kinder auf seine Wiederkehr. Und als schliesslich nach hunderten Jahren des Wartens Schiffe am Horizont auftauchten, als weisse Männer ihre schweren Stiefel auf den Strand setzten, da wurden sie begrüsst wie Abgesandte des lang zurückerwarteten Gottes, wenn nicht gar als Inkarnation seiner selbst.
Die Männer aber sprachen spanisch und brachten weder die gefiederte Schlange noch Nachricht von Quetzalcoatl. Sie vermehrten nur die Goldenen im Lande.