Vielleicht war mein Fell nie etwas anderes als einfach das Fell eines Wolfes. Doch ein schönes Fell war es: dicht und glatt und unentbehrlich für mich, denn es wärmte, war mein Schutz, passte sich den Farben der Jahreszeiten an, eine gute, eine notwendige Tarnung auf der Jagd und auf der Flucht. Ich weiß es nicht sicher, es ist mir bisher nicht gelungen herauszufinden, ob ich unter diesem Fell auch eine solch glatte und weiche Haut habe wie das Kleine Mädchen. Einmal habe ich mir mit den Zähnen büschelweise Haare aus meinem Fell gerissen, um Gewissheit zu bekommen darüber. Und es hat mich erschreckt, was ich sah: diese kahle Stelle; und ich fand auch wirklich etwas wie Haut. Nur hatte sie gar nichts von der Haut des Kleinen Mädchens, war grau, unansehnlich, zusätzlich entstellt von dem Blut, das in zähflüssigen Rinnsalen aus einigen kleinen Wunden hervorquoll, die ich mit meinen Zähnen aufgerissen hatte. Vielleicht, dachte ich, gehört dieses hässliche Stück Haut noch zu meinem Fell, dem Fell eines Wolfes, und ich hätte doch auch eine Haut wie das Kleine Mädchen, gelblich braun und ein wenig transparent, sehr verletzlich darunter, in einer tieferen Schicht, unter meinem grauen Fell. Lange hatte ich mir die Hoffnung bewahrt, dass sie eines Tages zum Vorschein kommen, dass ich sie lieben und mein Fell entbehren könnte. Doch das ist eine eitle Hoffnung. Jetzt beginnen mir tatsächlich die Haare auszufallen, und mein Fell, das einst glatt und glänzend war, wird von Tag zu Tag dünner; doch die erhoffte Haut will sich nicht zeigen.
Als ich damals sehnsüchtig auf den Tag wartete, an dem das Wunder geschehen würde, sagte ich mir, um mich über meine Enttäuschung zu trösten, dass ich wenigstens ein schönes Fell hätte, ein geradezu prachtvolles, wie manche Kleider der Menschen. Und als Wolf gefiel ich mir auch in ihm, dachte, wenn ich schon keine Haut wie das Kleine Mädchen haben könnte, so wäre es doch eine noch immer annehmbare Entschädigung dafür. Unter ihm, an dessen Stelle ich mir oft die glatte, haarlose Haut des Kleinen Mädchens träumte, vibrierten harte Muskeln, bereit zu rasendem Lauf, kräftigem Sprung. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Kräfte und glaubte, noch einige Jahre meine Herrschaft in diesem Revier aufrechterhalten zu können; ja, wenn ich es gewollt hätte, wäre es mir sogar möglich gewesen, meinen Vetter aus dem angrenzenden Waldstück zu vertreiben und so über ein noch größeres Gebiet zu herrschen. Aber das wollte ich gar nicht, denn mein Jagdrevier war ohnehin schon so groß, dass ich es in einer ganzen Woche nicht durchstreifen konnte. Und ich herrschte ganz uneingeschränkt. Niemand, außer den Menschen, hätte gewagt, mir die Stirn zu bieten. Selbst mein Vetter, der nur wenig jünger ist als ich, kräftig und stolz, mied das große Waldstück jenseits des Flusses, dessen Herr ich damals war, mit Bedacht. Er war schlau, hätte sich auf keinen Kampf mit mir eingelassen. Denn scharf wie Messer waren meine Krallen, dolchspitz meine Zähne; ich sah gut, witterte wie kaum ein anderer, war kampfgeübt seit meiner frühesten Jugend. Mein Vetter wusste das und legte sich nicht mit mir an. Und da ich selbst genug hatte in meinem Jagdrevier, ging auch ich ihm aus dem Weg.
Das alles scheint mir schon sehr lange her zu sein, doch ich weiß, dass tatsächlich noch nicht einmal ein Jahr seit diesem Missgeschick mit dem Fangeisen, das der Beginn meines Untergangs war, vergangen ist.
Wie durch Magie habe ich blaue Augen. Ein Wolf mit blauen Augen!, hatte das Kleine Mädchen ausgerufen und antwortete auf mein Knurren mit einem hellen, furchtlosen Lachen, das mich erschreckte und gleichzeitig zu ihm hinzog mit großer, unüberwindlicher Kraft, meinem Knurren das Drohende, meinen Krallen die Schärfe, meinen Zähnen das Furchteinflößende und mir selbst einen Großteil meines wölfischen Wesens nahm. Vielleicht sind meine blauen Augen der Grund, weswegen das Kleine Mädchen mich unter Aufbietung aller seiner Kräfte aus dem Fangeisen, in das ich geraten war, befreit hatte, statt den Jäger zu holen und mich dem sicheren Tod auszuliefern. In jedem Falle aber war es dies furchtlose Lachen, weswegen ich ihm nichts tun konnte, sondern ihm, ganz gegen meine Wolfsart, die kleinen, warmen, weichen Hände leckte, mit denen es kurz zuvor noch den Knüppel gehalten hatte, mit dem es ihm gelungen war, das Fangeisen aufzustemmen und mich aus dessen todbringender Umklammerung zu befreien – diese zarten Mädchenhände, mit denen es mir die klaffende Wunde, aus der ich leicht hätte verbluten können, verbunden und mich gestreichelt hatte. Das Kleine Mädchen schien überhaupt keine Angst vor mir zu haben; dabei hätte ich es doch anfallen und gnadenlos zerreißen können. Doch wahrscheinlich spürte es instinktiv, dass es vermochte, was kein Wolf in dieser Gegend, kein anderes Tier gekonnt hätte: dass es mit seinem Streicheln den Schmerz, den mir die dicken, scharfkantigen Zacken des Fangeisens bereitet hatten, lindern konnte und dass es mich so nahezu mühelos für sich gewann, auf beschwörende, unausweichliche Art Macht über mich erlangte, was ich sonst auf den Tod niemandem möglich gemacht hätte. Erst hatte ich noch unter seiner Berührung zusammengezuckt, denn ich erwartete nichts Gutes, wenn es mich auch aus dem Fangeisen befreit hatte. Vielleicht, argwöhnte ich, war es ja nur eine List gewesen, und ich würde doch getötet werden, nachdem ich mich kampflos hatte besiegen lassen. Aber dann erlaubte ich ihm, mir mit den Händen durchs Fell zu streifen; und ich zweifelte keinen Augenblick länger, dass das Kleine Mädchen es gut mit mir meinte, mir nichts tun, mich nicht dem Jäger, den Menschen ausliefern würde, sondern dass es bereit war, sich, auf welche Art auch immer, mit mir zu verbünden.
Nie zuvor in meinem Leben hatte mich jemand gestreichelt. Ich hätte es auch als Wolf wohl nie erfahren, wenn ich nicht an jenem Tag in das Fangeisen geraten und von dem Kleinen Mädchen gefunden worden wäre. Es streichelte mich lange. Ich vergaß darüber fast den kurz zuvor noch unerträglichen Schmerz und wünschte mir, dass es nie aufhören möge, mir so über das Fell zu streichen. Es fuhr mit seinen Händen über meine zitternden Läufe, betrachtete sogar eindringlich meine Krallen und meine speichelnassen Zähne, ohne sich vor diesen meinen Waffen zu fürchten; vielmehr blickte es unendlich traurig auf sie nieder, mit denen ich so viele Tiere gerissen, so viele Kämpfe für mich entschieden hatte. Das Kleine Mädchen schien mich nicht wie die Tiere, die mir unterlegen waren, um sie zu beneiden, sondern vielmehr Mitleid zu haben mit mir, da ich mit diesen wölfischen Waffen so untrennbar verwachsen war und mich wohl nie von ihnen würde lösen können. Denn bestimmt wünschte das Kleine Mädchen so etwas. Ich spürte es, erkannte es aus seinem Blick und fühlte es von der Berührung seiner Hände her, die mich noch immer streichelten.
Dann sagte es etwas. Ja, das Kleine Mädchen sprach zu mir. Es waren tröstende Worte. Erst verwunderte, ja erschreckte mich auch das; doch wenig später schon schien es mir ein unschätzbarer Vorteil gegenüber den anderen Tieren, dass ich die Sprache der Menschen verstehen konnte. Ich überlegte, wie nützlich mir diese Fähigkeit sein würde, von der ich vorher nichts gewusst hatte. Und ich sah mich, sobald meine Wunde geheilt sein würde, Kapital daraus schlagen, malte mir aus, wie ich nun nicht einmal die Menschen mehr in der Art wie früher würde fürchten müssen, dass ich sie belauschen und ihre Pläne in Erfahrung bringen könnte, wenn sie vorhätten, Jagd auf mich zu machen, ja dass ich selbst herausbekommen könnte, wo der Jäger die Fangeisen ausgelegt hatte. Ich erkannte gleich, dass die Fähigkeit, die Menschen verstehen zu können, mich sehr viel weniger verwundbar machte, als ich bisher gewesen war, dass ich mein Leben verlängern, von einem Großteil Angst vor den Menschen befreien könnte und dass ich diese Gabe den Händen des Kleinen Mädchens verdankte. Während es mich streichelte und mit leiser, kindlicher Stimme auf mich einredete, fühlte ich mich schon wieder so erstarkt und sicher, vor allem sicher, dass ich mich ganz und gar seinen Händen hingab, ohne weiter auf die Umgebung zu achten, wie ich es, schon aus Gewohnheit meines Wolfslebens, immer, selbst noch im Schlaf, getan hatte. Ich ließ sogar zu, dass sich das Kleine Mädchen neben mich legte, seinen Arm auf meinem inzwischen ruhig gewordenen Körper. Noch einmal, doch nur für einen winzigen Augenblick, dachte ich daran, es doch anzufallen, zu zerfleischen, zu töten; aber als ich seinen Atem so nah spürte und seine sorgenvolle Stirn, seine so liebevollen Hände betrachtete, ahnte ich schon, dass ich es von jetzt an nie würde tun können, dass die einzige Gelegenheit dazu, wenn es sie je gegeben hatte, vertan war und dass das Kleine Mädchen, jedenfalls was es selbst anging, das Wölfische in mir besiegt hatte mit seinem Streicheln und seinen beschwörenden Worten.
Als ich aufwachte, war es früh am Tag; und es musste schon längere Zeit hell gewesen sein. Ich fühlte mich auf wunderbare Weise gestärkt, und erst als ich aufstehen wollte, erinnerte mich der stechende Schmerz in meiner Pfote daran, was geschehen war. Ich lag noch immer an derselben Stelle, an der das Kleine Mädchen mich am Vortag gefunden hatte, neben dem Fangeisen. Als ich meine verwundete Pfote sah, die das Kleine Mädchen mit seinem Hemd umwickelt hatte, das unterdessen mit dunkelrotem Blut getränkt war, erschrak ich. Wie unvorsichtig war es gewesen, sich jemandem so sehr anvertraut zu haben! Stundenlang hatte ich völlig schutzlos hier gelegen.
Sicher, das Kleine Mädchen hatte mich verbunden, mich gestreichelt und beruhigend auf mich eingesprochen; aber hätte es mich nicht, während ich nun so lange hier gelegen und geschlafen hatte, überwältigen und töten, wenigstens jedoch den Jäger holen können, damit er mich mit einer Kugel niederstreckte? Ich war unvorsichtig gewesen, wie ich es nie hätte sein dürfen. Nie zuvor in meinem Leben war ich so lange Zeit dem vernichtenden Angriff eines beliebigen Feindes ausgesetzt gewesen. Ich dachte, dass es geradezu ein Wunder sei, dass ich noch lebte. Das Streicheln und die Worte des Kleinen Mädchens hatten mir Sicherheit vorgegaukelt, so dass ich mich sorglos in diesen tiefen, langen Schlaf hatte fallen lassen, der mein Untergang hätte sein können. Ich hätte mich nicht streicheln lassen dürfen, dachte ich, hätte nicht zulassen dürfen, dass es mit mir sprach und sich an meine Seite legte. Vielmehr hätte ich es töten oder doch zumindest zu fliehen versuchen sollen, nachdem es mich aus dem Fangeisen befreit hatte. Ich hatte geglaubt, dankbar sein zu müssen und mich damit in eine nicht mindere Gefahr begeben.
Während ich über all das nachdachte, wurde mir klar, welch große Bedrohung das Kleine Mädchen für meine Existenz bedeutete. Zum ersten Mal hatte jemand etwas gegen meinen Willen mit mir getan; und mein Widerstand war nicht mehr als eine hilflose Drohgebärde gewesen. Das Kleine Mädchen hatte mich gestreichelt, und während ich seinen zarten und schwachen Händen erlaubte, durch mein Fell zu fahren, hatte ich nicht bemerkt, dass diese Liebkosung gefährlicher für mein Leben war als die erbarmungslose Umklammerung des Fangeisens. Aus dem Eisen hatte es mich befreit, doch wie viel schwerer würde es sein, seinen Händen zu entkommen! Deutlich spürte ich, dass ich mich fortan nach diesen Händen sehnen, mich immer wieder, so oft es nur möglich wäre, zu ihnen schleichen und ihre Berührung suchen würde. Es war eine furcht erregende Falle, in die ich gegangen war, eine Falle, der ich nicht, wie den Fangeisen, die in meinem Revier ausgelegt waren, ausweichen konnte, sondern die ich suchen und in die ich immer wieder freiwillig würde gehen müssen, von einem unbesiegbaren inneren Drang getrieben.
Ohne dass ich es hätte verhindern können, hatte jemand Macht über mich erlangt, mit kleinen, warmen Mädchenhänden eine Schlinge ausgelegt, die sich eines Tages um meinen Hals legen und würgend schließen würde. Das Kleine Mädchen, das mir noch am Vortag als Freund erschienen war, dem man sich anvertrauen, mit dem man vertraulich sein durfte, war in Wirklichkeit mein gefährlichster Feind, mächtig und bedrohlicher als der Jäger, als alle im Dickicht ausgelegten Fangeisen, ja gefährlicher selbst noch als das Alter, das mich einst schwächen und in einem irgendwann einmal statt findenden Machtkampf mit einem anderen Wolf würde unterliegen lassen. Es gab nur eine Chance, diese Gefahr abzuwenden: Ich musste das Kleine Mädchen suchen, es töten, sobald ich es gefunden hätte, es anfallen und töten, bevor es mich ansehen, mich berühren könnte, noch einmal berühren und liebkosen könnte wie am Vortag, nachdem es mich aus dem Fangeisen befreit hatte. Und ich musste es schnell tun, es musste sofort geschehen.
So machte ich mich auf den Weg zum Dorf. Es war recht weit bis dorthin, und bei jedem Schritt durchzuckte ein stechender Schmerz meine wunde Pfote, als schlügen sich die stählernen Zähne des Fangeisens immer wieder aufs Neue in mein Fleisch. Es war ein mühsames, ermüdendes Vorankommen: bei jedem Aufsetzen der verletzten Pfote dieser stechende Schmerz, der mich zusammenzucken ließ. Auch hatte die Wunde wieder zu bluten begonnen, und das Hemd, das das Kleine Mädchen mir als Verband um die Pfote gewickelt hatte, begann sich zu lösen. Bald würde es abgefallen sein und nichts mehr das Blut zurückhalten. Ich fürchtete, am Ende nicht mehr die Kraft zu haben, auf das Kleine Mädchen zuzuspringen, wenn ich es erst gefunden hätte, um ihm mit einem kräftigen Biss in den zartbraunen Hals sofort jede Chance zur Gegenwehr zu nehmen, einer Gegenwehr, die in einem einzigen bittenden Blick bestehen konnte, in seiner Zärtlichkeit, der sanften Gewalt seiner Hände, mit der es schon einmal meinen Willen bezwungen hatte. Vorsichtig musste ich vorgehen, geschickt mich nähern, denn ich wusste, dass ich doppelt geschwächt in diesen Kampf ging, in ihm nur siegen konnte, wenn ich das Kleine Mädchen wirklich tötete, vernichtete, um gänzlich und für immer der bezwingenden Macht seiner Hände und Worte zu entrinnen. Wenn es nicht gelänge, so würde es, das wusste ich, meinen Untergang bedeuten, einen langsamen, mählich fortschreitenden, schrecklichen Tod. Ich musste weiter, musste so schnell wie möglich das Dorf erreichen, ankämpfend gegen den starken Schmerz und meine Angst vor dem Kleinen Mädchen, Angst, ein Gefühl, das ich bis dahin kaum gekannt hatte. Schmerz und Angst. Doch größer als das war mein Wille zu leben. Ich war ein Wolf und im besten Alter, war nur für kurze Zeit ein wenig geschwächt durch dieses Missgeschick mit dem Fangeisen. Die Wunde aber würde heilen, ich wieder zu Kräften kommen und bald schon ebenso unangefochten wie zuvor über mein Jagdrevier herrschen können, das so groß war, dass ich es in einer ganzen Woche nicht durchstreifen konnte. Dazu aber musste ich das Kleine Mädchen töten. Sicher, es hatte mich befreit, mir so das Leben gerettet, und vielleicht schuldete ich ihm dafür Dank. Doch ich war ein Wolf! Ich durfte nicht dulden, dass ich in jemandes Schuld stand, schon gar nicht in seiner, des Kleinen Mädchens, das die Waffen besaß, mich langsam zu töten, indem es mich nach und nach zu Grunde richten würde. Es wäre gegen mein Wolfsein gewesen, gegen mein Leben. Ich durfte es einfach nicht dulden.
Das alles scheint mir schon sehr lange her zu sein, doch ich weiß, dass tatsächlich noch nicht einmal ein Jahr seit diesem Missgeschick mit dem Fangeisen, das der Beginn meines Untergangs war, vergangen ist.
Ich war nie ängstlich gewesen. Immer waren es die anderen, die sich vor mir fürchteten. Doch als ich schließlich so nahe an das Dorf herangekommen war, dass ich deutlich das Vieh in den Ställen wittern konnte, befiel mich plötzlich eine heillose Furcht. Zwar konnte ich die Straße beobachten, die durch das Dorf führte, und sah, dass niemand dort ging; doch es hatte Gründe gehabt, warum ich mich vordem nie so weit an diese Häuser herangewagt hatte, denn es war gefährlich, selbst jetzt, zur Mittagszeit, da es ruhig war im Dorf. Es brauchte mich nur jemand zu sehen, schon würde Alarm geschlagen werden und die Hetzjagd beginnen, die mein Ende gewesen wäre an jenem Tag, verwundet und geschwächt, wie ich war. Ich überlegte schon umzukehren. Doch das durfte ich nicht. Ich musste mich in das Dorf wagen, ungeachtet der Gefahr, die dort drohte, musste das Kleine Mädchen finden, um es zu töten. Wie aber sollte ich das anstellen? Ich konnte doch nicht in jeden Hof, gar jedes Haus eindringen, um es zu suchen. Doch das brauchte ich auch nicht. Denn als ich mich bis zum ersten Gehöft herangeschlichen hatte und durch das einen gerade genügend breiten Spalt geöffnete Tor hindurchgeschlüpft war, stand das Kleine Mädchen vor mir. Spring!, spring!, beiß zu! Doch es war schon zu spät, schon in diesem Augenblick war es zu spät und von da an auf immer. Denn das Kleine Mädchen hatte dort gestanden, als hätte es mich erwartet, wissend um meinen Plan. Ich hatte keine Möglichkeit gehabt, mich von hinten heranzuschleichen, sondern es stand vor mir, mir zugewandt; und als ich zu ihm aufblickte, spürte ich sofort seinen Blick, der warm war, zärtlich und verzeihend und der dennoch wie eine glühende Nadel in meine Stirn drang, sich dort wie mit Widerhaken, die zerrten, bohrten, quälten, verfing, dass ich fürchtete, das Kleine Mädchen würde nie mehr seinen Blick von meiner Stirn nehmen, von jener Stelle zwischen meinen Augen, wo der wahnwitzige Gedanke, es zu töten, gesteckt haben musste. Meine Angst wurde unerträglich. Ich duckte mich zusammen, sah mit flehendem Blick zu ihm auf, dass es mich nicht verrate, mich am Leben lasse, noch einmal, ein einziges Mal rette. Und wirklich tat es mir nichts. Es holte nur tief Luft, um dann in seiner hemmungslosen, von aller Angst unberührten Art zu lachen, was mich wie ein Knüppelschlag traf, so dass ich mich winselnd hinlegte, so fest, wie ich nur irgend konnte, an den Boden presste, als hoffte ich, die Erde würde mich aufnehmen und unter ihrer schützenden Decke in den Wald zurückkehren lassen, wo ich mich verstecken könnte. Die Erde aber wich nicht auseinander unter mir, und ich konnte nicht fliehen. Das Kleine Mädchen lachte noch immer. Ich wusste, das war seine Strafe dafür, dass ich versucht hatte, mich zu befreien; und es war die Strafe eines, der sich überlegen wusste, seiner ohnehin uneingeschränkten Macht sicher war. Im ganzen Dorf muss dieses Lachen zu hören gewesen sein, dachte ich, und gleich würde jemand kommen, und es würde mein Ende sein. Doch niemand kam. Das ganze Dorf schien wie tot. Zwar witterte ich Vieh, doch ich hörte kein einziges menschliches Geräusch außer dem Lachen des Kleinen Mädchens, das der einzige Mensch in diesem Dorf zu sein schien. Endlich lachte es nicht mehr. Es sah mich vielmehr so traurig an wie am Tag zuvor, nachdem es lange meine Krallen betrachtet hatte. Dann kniete es neben mir nieder und berührte mich, und es war alles genau so, wie ich es am Vortag erlebt hatte, die gleiche Wirkung: Willenlosigkeit, Erschöpfung, Schwäche. Alles ließ ich geschehen, selbst noch, dass es mich von der Erde aufhob und auf seinen Armen fort trug, nachdem es gesagt hatte: Du musst schnell von hier fort. Woher nur hatte das Kleine Mädchen die Kraft, mich zu tragen, einen ausgewachsenen Wolf?, mich wieder zu besiegen, ohne Kampf? Und wo war mein Stolz, der groß gewesen war, bevor das Kleine Mädchen mich zum ersten Mal berührt, zum ersten Mal zu mir gesprochen hatte? Wo war mein Stolz geblieben, der Stolz eines Wolfes, des Herrschers über ein großes Revier? Das Kleine Mädchen brachte mich fort aus dem Dorf, trug mich zurück in den Wald, zu der Stelle, an der es mich gefunden und aus dem Fangeisen befreit hatte, das noch immer dort lag, mit meinem Blut befleckt. Es ließ mich aus seinen Armen, legte mich auf die Erde, genau neben das Eisen, als wollte es mich daran erinnern, dass es mir das Leben gerettet hatte und dass ich ohne es verblutet oder vom Jäger erschossen worden wäre. Und sein Blick und die Art, wie es neben mir saß, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, waren ein einziger Vorwurf: Du wolltest mich töten! Waren Hohn: Töten wolltest du mich?, glaubst du denn, dass dir das je gelingen könnte? Und waren Verachtung: Wie konntest du nur deinen Freund töten wollen? Das Schlimmste aber war, dass es trotz allem wieder begann, mit seinen kleinen, zarten Händen durch mein Fell zu streichen und dass es mir verzieh, einfach verzieh.
Das alles scheint mir schon sehr lange her zu sein, doch ich weiß, dass tatsächlich noch nicht einmal ein Jahr seit diesem Missgeschick mit dem Fangeisen, das der Beginn meines Untergangs war, vergangen ist.
Sehr lange noch blieb es so an meiner Seite sitzen und sprach zu mir. Es erzählte von den Menschen, die offenbar doch in dem Dorf leben mussten, wenn ich sie auch nicht bemerkt hatte. Und so hörte ich von dem Kleinen Mädchen, wie diese Menschen über mich sprachen, dass sie mich einen grausamen Mörder nannten, der gnadenlos umgehe in diesen Wäldern und wahllos töte, was immer ihm in den Weg komme. Dass ich blutrünstig sei, eine gefährliche Bestie. Und während das Kleine Mädchen all das sagte, hörte es nicht auf, mich in seiner furchtlos zärtlichen Art zu streicheln und zu kraulen, obgleich es doch den Erzählungen der Menschen nach allen Grund zur Furcht vor mir gehabt hätte.
Es sah mich nicht an, sondern blickte nach oben, irgendwohin auf eine am Himmel vorüberziehende Wolke oder gar auf einen bestimmten Punkt, an dem es etwas entdeckt haben musste, dass ich nicht sehen konnte, sondern nur das Kleine Mädchen selbst, vielleicht weil es ein Mensch war oder weil es jene unerschöpfliche Kraft des Verzeihens besaß, die mir fremd war.
So hörte ich von ihm all die Dinge, die unter den Menschen von meiner Grausamkeit berichtet wurden. Und ich wollte ihm widersprechen, denn es waren Lügen; kaum etwas von dem, was sie sich erzählten, entsprach der Wirklichkeit meines Lebens in den Wäldern, als Herrscher dieses großen Waldgebietes, kaum etwas davon war wirklich wahr. Aber ich musste bemerken, dass ich zwar die Sprache der Menschen verstand, jedoch nicht selbst sprechen konnte, dass es mir nicht möglich war, mich verständlich zu machen, dem Kleinen Mädchen zu sagen, dass all dies so nicht stimme, ich kein brutaler Mörder sei und, wenn ich tötete, es nur deswegen tat, um leben zu können, um mich zu ernähren, aus keinem anderen Grunde als dem.
Ich versuchte zu sprechen, doch das einzige, was ich hervorbringen konnte, war Knurren, war vielleicht ein Winseln, doch keine Worte, wie das Kleine Mädchen sie benutzte. So musste ich es reden lassen, ohne mich gegen all diese Lügen, die unter den Menschen umgingen und die es selbst auch zu glauben schien, wehren zu können. In diesem Moment war ich nicht mehr glücklich darüber, die Sprache der Menschen zu verstehen. Denn da ich nicht in ihr sprechen konnte, musste ich alles über mich ergehen lassen; und es schmerzte mich, ihre Lügen zu hören, ohne je die Möglichkeit eines Widersprechens zu haben, so dass ich wünschte, ich hätte die Gabe, diese Sprache zu verstehen, nie erlangt, diese Gabe, die doch in ihrer Halbheit eigentlich einen Fluch bedeutete, der nur auf mir lastete, kaum mehr ein Vorteil gegenüber den anderen Tieren war, die das Urteil der Menschen über sich nicht zu kennen brauchten. Doch es war dagegen nichts mehr zu tun. Ich konnte nur noch in Wut über meine Ohnmacht geraten, mich nicht ausdrücken zu können, sondern zum Schweigen verurteilt zu sein, einem Schweigen, das, wie ich ahnte, schon als Beweis einer Schuld gelten konnte, der mich die Menschen zu Unrecht bezichtigten. Und so war mein Knurren ein Knurren wilder Wut, war mein Winseln ein Winseln der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Doch plötzlich sah das Kleine Mädchen mich wieder an und schien mich tatsächlich verstanden zu haben, denn es sagte: Aber es ist doch nicht so, nicht wahr? Es ist doch nicht wahr, was sie behaupten, dass du Tiere reißt und auffrisst wie ein Ungeheuer, dass du Menschen anfällst, es ist doch nicht wahr? Sie lügen doch, wenn sie so etwas über dich sagen. Ich knurrte nicht mehr, winselte auch nicht. Denn das Kleine Mädchen hatte mich verteidigt gegen die Menschen, hatte ausgesprochen, was ich sagen wollte. Doch nicht nur das, sondern noch mehr, etwas, was schon wieder nicht mehr stimmte, denn es war doch so, dass ich Tiere gerissen hatte, wenn auch nicht aus Mordlust, sondern um mich zu ernähren. Das Kleine Mädchen aber hatte diese Worte so eindringlich gesprochen und mich dabei angesehen, als wolle es mich um Zustimmung bitten, mich darum bitten, dass ich ihm bestätigte, dass ich nie ein anderes Tier gerissen und aufgefressen hatte. Ich spürte, dass es sich diese Zustimmung mehr als alles andere wünschte und dass es mir glauben würde. Nur konnte ich auch jetzt nicht sprechen, konnte auch jetzt nicht mit Worten zustimmen. So versuchte ich einen Laut, der klagend klang, jedoch Zustimmung bedeuten sollte. Und die Augen des Kleinen Mädchens hellten sich auf, es verstand mich, lächelte, vergrub sein kindliches, furchtloses Gesicht in meinem Wolfsfell und küsste mich, als wäre es mir unendlich dankbar für meine Zustimmung, für meine Bestätigung, dass die Worte der Menschen nichts als Lüge seien.
Dabei war es eine verlogene Zustimmung gewesen. Ich hatte zu lügen begonnen, weil mir die richtigen Worte nicht gegeben waren, dem Kleinen Mädchen alles so zu erklären, wie es wirklich war. Ich war sprachlos, war stumm; und so blieb mir nichts, als die Lügen der Menschen als Wahrheit gelten zu lassen oder aber sie gegen die Vorstellung des Kleinen Mädchens auszutauschen, die zwar auch nicht der Wahrheit entsprach, doch ihr immerhin noch näher schien. Und ich konnte nicht sprechen, konnte nur wählen zwischen Zustimmung und Verneinung, nichts hinzufügen, nichts hinweg nehmen. So log ich, und das Kleine Mädchen war dankbar. Dabei hatte ich nicht lügen, nur nicht ihm gegenüber im Unrecht sein wollen. So blieb mir nun nur eines noch: Ich musste so werden, dass all die Worte, die das Kleine Mädchen gesagt und denen ich zugestimmt hatte, dass all das, was es von mir dachte, wie es mich sah, dass all das wahr würde. Das Kleine Mädchen glaubte, dass ich sei wie es selbst. Und ich wünschte mir, so zu werden, dass es zu Recht an meine Reinheit und Güte glaubte. Ich dachte nicht mehr daran, dass ich verhungern würde, wenn ich zu jagen aufhörte, dass ich meine Herrschaft in diesem Revier einbüßen würde, wenn ich sie nicht mehr verteidigte. Ich dachte nicht mehr daran, dass ich ein Wolf war und sein musste, da es meine Bestimmung und ich so geboren worden war, sondern ich wünschte mit einem Mal nur noch, die Hoffnung des Kleinen Mädchens zu rechtfertigen und wie es selbst zu werden: ein Mensch. Von jenem Tag an sah ich bei allem, was ich dachte und tat, das Kleine Mädchen vor mir und versuchte, mir klarzumachen, wie es an meiner Stelle, in meiner Situation denken und sich entscheiden würde. Und nicht nur das. Immerfort stellte ich mir seine Gestalt vor, sah seine braune, weiche und scheinbar unendlich dehnbare Haut, seine zärtlichen Hände mit den kunstvollen, zerbrechlichen Fingern und sah seine schmalen, warmen, blassen Lippen vor mir, die mich geküsst hatten aus Dankbarkeit dafür, dass ich bestätigt hatte, so zu sein, wie ich in Wirklichkeit erst noch werden musste. Um nichts in der Welt wollte ich das Kleine Mädchen enttäuschen, denn ich spürte, dass es mich liebte, wie mich nie jemand geliebt hatte: als Menschen, obgleich ich doch in Wahrheit ein Wolf war.
Vielleicht, so dachte ich manchmal, hatten die Menschen am Ende doch Recht mit dem, was sie sich über mich erzählten. Denn da ich nicht dem Bilde des Kleinen Mädchens entsprach, das einzig gut, da es sein Bild war, entsprach ich womöglich, wenn ich es auch nicht wahrhaben wollte, dem Bild der Menschen, die mich einen Mörder nannten. Und ich glaubte sogar, dass nur dies der Grund dafür sei, warum ich ein Fell hätte und keine Haut wie das Kleine Mädchen, dass dies auch der Grund dafür wäre, warum ich nicht sprechen konnte in ihrer Sprache. Ich musste der Mensch werden, als den das Kleine Mädchen mich liebte. Sicher, sagte ich mir, würde ich in dem Maße, wie ich dem Bild, das es von mir hatte, ähnlicher wurde, auch seiner Gestalt ähnlicher werden, würde mein Fell einer Haut wie der seinen weichen, meine ungeschickten, zu Zärtlichkeit kaum fähigen Pfoten zu Händen werden, meine harte Schnauze zu einem Mund mit eben solchen Lippen wie denen des Kleinen Mädchens, bis ich schließlich eines Tages auf zwei Beinen gehen könnte und mich innerlich wie äußerlich von dem Kleinen Mädchen und also auch seinem Bild von mir in nichts mehr unterschiede. Denn dieses Bild war ein Bild wirklicher Reinheit, der Ausdruck seines Wunsches, dass ich sein Ebenbild würde, eines Wunsches, den ich unbedingt erfüllen wollte, während es selbst glaubte, er sei schon erfüllt und ich ihm, zumindest innerlich, schon gleich, was aber nicht stimmte; denn ich war ein Wolf. Meine blauen Augen jedoch und die Fähigkeit, die menschliche Sprache wenigstens schon zu verstehen, schienen mir deutliche Zeichen, dass ich auf dem richtigen Wege war, ließen mich hoffen und den furchtbaren Hunger ertragen, der sich bald einstellte, da ich nicht mehr jagte.
Dabei hatte ich schon recht bald den Verdacht, dass nicht alle Menschen so sein konnten wie das Kleine Mädchen, so gütig und mit jener Kraft des Verzeihens, denn hätten sie sonst so über mich gesprochen? Hätten sie mich nicht vielmehr wie das Kleine Mädchen als ihresgleichen annehmen müssen, statt mich zu verleugnen und zu beschimpfen? Doch wie durch einen Zauber hatte ich alle Erinnerung an andere Menschen außer dem Kleinen Mädchen verloren, selbst die Erinnerung an den Jäger, den ich so oft gesehen, der mir immerfort nachgestellt hatte mit seinem Gewehr und mit den Fangeisen, die er, im Unterholz versteckt, ausgelegt hatte, selbst das Bild dieses Jägers war schon verblasst, so dass ich mich bald gar nicht mehr seiner erinnern konnte, ja dass er alle Bedeutung für mich verlor.
So wie ich in dem Dorf auf keinen weiteren Menschen gestoßen war, so war mir auch der Jäger fortan nicht mehr begegnet; und es schien auch keine Fangeisen mehr in meinem Revier zu geben. Jedenfalls ging ich nie mehr in eine solche Falle und entdeckte auch keine mehr. Vielleicht hatte das Kleine Mädchen sie alle fortgebracht, damit ich mich nicht mehr verletzte, mein Leben nicht in Gefahr käme. Oder aber, und diese Möglichkeit wäre mir am wahrscheinlichsten erschienen, wenn da nicht die Narbe an meiner Pfote gewesen wäre, die ab und an noch schmerzte, oder aber es hatte diese Fangeisen nie gegeben. Ja vielleicht stammte die Narbe an meiner Pfote von einer ganz anderen Verletzung, und ich war in Wirklichkeit nie in eine von den Menschen aufgestellte Falle getreten, sondern hatte dies in meiner wölfischen Bosheit immer nur geglaubt und den Menschen unterstellt, Jagd auf mich gemacht zu haben.
Allerdings gab es noch etwas, das mich von Zeit zu Zeit zweifeln ließ. Denn das Kleine Mädchen hatte mir mehrmals eingeschärft, unter keinen Umständen noch einmal zum Dorf zu kommen, wie ich es das erste Mal getan hatte, als ich noch glaubte, es töten zu müssen und zu können. Unter keinen Umständen!, hatte es immer wieder gesagt mit flehender Stimme. Und ich hatte den Sinn seiner Worte nicht verstehen können. Denn warum sollte es gefährlich für mich sein, dorthin zu gehen, wenn ich doch gar nicht befürchten musste, getötet zu werden, da all meine Gedanken von Verfolgung und Todesdrohung nur meiner Phantasie entsprungen waren, hatte doch nie jemand Jagd auf mich gemacht, nie jemand Fangeisen gegen mich ausgelegt, sondern ich diese Dinge den Menschen nur unterstellt, da ich sie für ebenso böse hielt, wie ich selbst gewesen war – und nur ich? Doch ich hielt mich an das gestrenge Verbot des Kleinen Mädchens, und solange Hunger und Abzehrung noch nicht so weit fortgeschritten waren, dass ich noch weite Wege machen konnte, näherte ich mich dem Dorf doch nie mehr als bis auf Sichtweite, sondern machte immer einen gehörigen Bogen darum.
So sehr ich mir auch wünschte, dem Kleinen Mädchen zu gleichen, seinem Bilde von mir immer ähnlicher zu werden, quälte mich jedoch der Hunger von Tag zu Tag mehr. Und so beschloss ich eines Tages, mir doch einen Hasen zu fangen, in der Hoffnung, es könnte dem Kleinen Mädchen entgehen. Ich ging feige vor, wie ich es zu besseren Zeiten nie und nimmer getan hätte, denn ich fühlte, dass meine Kräfte nicht mehr ausreichten, um in der mir bis dahin gewohnten kunstvollen Art des Jagens ein Tier zu erlegen. Hinterhältig versuchte ich, den Hasen in meine Gewalt zu bekommen; doch selbst auf diese Weise brauchte ich lange, bis es mir gelang, ihn zu packen und ihm die Kehle durchzubeißen.
Mit Macht hatte ich den Gedanken an das Kleine Mädchen verdrängt, so groß und quälend war der Hunger gewesen. Doch als ich den Hasen aufgefressen hatte, und mein Hunger wenigstens etwas gestillt war, brach der Gedanke wieder hervor. Ich sah an meinen Pfoten das Blut, das nicht von mir stammte, sah das traurige Häuflein abgenagter Knochen, das vor mir lag, ich dachte an das Kleine Mädchen; und mein Gedanke schien es herbeizurufen, denn bald darauf entdeckte ich es, hinter einem Baum stehend. Ich erschrak, als mir in den Sinn kam, es hätte mich womöglich die ganze Zeit über beobachtet, mir zugesehen bei meinem blutigen Werk, mein Verbrechen in allen seinen Einzelheiten mitbekommen. Und ich schämte mich, verwünschte den Hunger, der mich zu dieser Tat getrieben hatte, obgleich es doch meine Hoffnung gewesen war, nie mehr töten zu müssen, wie es das Kleine Mädchen nie getan hatte und nie tun würde. Doch es war mir nicht gelungen. Jetzt, fürchtete ich, würde das Kleine Mädchen meine wahre Natur erkennen, mich nicht mehr lieben können und den Worten der Menschen, die eigentlich nur meine unterstellten Worte waren, Glauben schenken. Es würde mich verlassen, nie mehr zu mir kommen. Und ich hätte auf immer die Chance verspielt, eines Tages so zu sein wie es selbst und die Sprache der Menschen nicht nur verstehen, sondern auch sprechen zu können. Vielleicht konnte ich sie ja sogar durch diesen Rückfall in mein Wolfsein nicht einmal mehr verstehen. Was bliebe mir dann noch zu hoffen?
Aber ich verstand die Worte des Kleinen Mädchens noch immer, als es hinter dem Baum hervorgetreten war und zu mir sprach, als hätte es nichts gesehen. Dabei wusste ich doch, dass es alles gesehen haben musste, dass ihm nichts entgangen sein konnte! Doch es sagte nur: Du musst Hunger haben. Und es brachte mir Futter: Früchte, die ich wohl schon gesehen, doch immer verschmäht hatte, brachte aber auch Fleisch, das, wie ich glaubte, vom Schaf stammen musste. Doch während ich es fraß, sagte ich mir, dass das nicht sein könne. Denn nie würde das Kleine Mädchen ein Schaf getötet haben. Es konnte kein Schaffleisch sein; es war keines. Von jenem Tag an brachte mir das kleine Mädchen täglich zu fressen. So wurde ich zwar wieder ein wenig kräftiger, doch nicht wieder so stark wie früher, denn ich jagte nicht mehr, übte mich nicht in meinen Künsten und nicht meine Muskeln, die einst kräftig gewesen waren, so dass die anderen Tiere mich gefürchtet hatten, selbst noch die Wölfe, die aus meinem Gebiet verschwunden waren, weil sie meine Kraft und also meine Herrschaft anerkannt hatten.
Wie ein Lichtwesen erschien mir fortan das Kleine Mädchen, das nun jeden Tag aus der Richtung des Dorfes zu mir kam und mir zu fressen brachte, Fleisch, das zwar an Schaf, Rind, Schwein erinnerte, ohne jedoch wirklich Fleisch von Tieren zu sein. Ich nahm an, dass es irgendwo im Dorf, das mir verboten war, Bäume gäbe, an denen diese an Fleisch erinnernden Früchte wachsen mussten, so dass die Menschen keine Tiere zu töten brauchten, wie ich es zeitlebens getan hatte, da ich diese Bäume nirgends in meinem Revier hatte entdecken können und das Dorf, erst aus Angst und dann des Verbotes wegen, nicht betreten hatte. Seit ich von ihm zu fressen bekam, nannte mich das Kleine Mädchen »mein lieber, großer Hund«. Und wenn ich zu anderen Zeiten darüber auch in furchtbare Wut geraten wäre, so erduldete ich es doch von dem Kleinen Mädchen gern; denn wenn es mich so nannte, musste es gut sein. Schließlich schmeichelte es mir sogar, »Hund« von ihm genannt zu werden, als ich mir klarmachte, dass die Hunde immerhin schon unter den Menschen lebten, also in irgendeiner Weise von ihnen als ihresgleichen akzeptiert werden mussten, und dass, wenn das Kleine Mädchen mich »mein lieber, großer Hund« nannte, das sicher bedeutete, dass ich zumindest schon nicht mehr Wolf war, sondern mich auf einer Zwischenstufe zum Menschen befand, ja dass mich ihre Anrede sogar vor allen anderen Hunden auszeichnete, wenn ich auch nicht wusste, wie diese unter den Menschen lebten. Zwar konnte ich äußerlich keine Anzeichen einer Veränderung an mir wahrnehmen, vielmehr bemerkte ich, dass ich einfach aussah wie ein heruntergekommener Wolf; ich glaubte aber dennoch, ein gut Stück in meinem Vorhaben, dem Kleinen Mädchen gleich zu werden, vorangekommen zu sein. So verdrängte ich meine anfängliche Wut über die Anrede des Kleinen Mädchens, ich verbot sie mir und zwang mich, Freude darüber zu empfinden, dass es mich so nannte. Ich bekam doch auch täglich Futter von ihm, jene Früchte von den mir unbekannten, unzugänglichen Bäumen. Es musste wahr sein und gut, was es sagte.
Das alles scheint mir schon sehr lange her zu sein, doch ich weiß, dass tatsächlich noch nicht einmal ein Jahr seit diesem Missgeschick mit dem Fangeisen, das der Beginn meines Untergangs war, vergangen ist.
Und dann geschah das Unglück, geschah das Unvermeidliche, das früher oder später hatte kommen müssen, denn in den Wäldern bleibt nichts verborgen, am wenigsten die Schwäche des Herrschers. So kam eines Tages mein Vetter über den Fluss, über die seit Jahren feststehende Grenze zwischen unseren Jagdrevieren, um mit mir zu kämpfen, mir meine Herrschaft streitig zu machen. In ihm trat mir meine frühere Gestalt entgegen, der kräftige, flinke, geschickte Wolf.
Ich war längst viel zu sehr geschwächt, um mich in einen Kampf mit ihm einzulassen und dabei überleben zu können. Kampflos unterwarf ich mich. Mein Vetter übernahm die Herrschaft, und er herrschte despotisch, wie ich es getan hatte, bevor ich in das Fangeisen geraten und von dem Kleinen Mädchen befreit worden war. Er vertrieb mich nicht, denn er wusste, dass ich keine Gefahr mehr für ihn darstellte. Vielleicht hatte er sogar Mitleid mit mir, denn er überließ mir die Reste von den Tieren, die er erbeutet hatte, damit ich nicht verhungerte. Und ich wäre verhungert. Denn um nichts in der Welt hätte ich wieder zu jagen begonnen. Und das Kleine Mädchen hatte er vertrieben.
Als er es sich zum ersten Male nahen sah mit dem Futter für mich, hätte er es beinahe angefallen und getötet, hätte ich nicht alle meine Kräfte zusammengenommen und ihn gehindert. Das Kleine Mädchen konnte fliehen. Und mich ließ mein Vetter in Ruhe, nachdem er mich abgeschüttelt hatte und sah, wie ich mich hilflos vor ihm auf der Erde wand wie ein Wurm. Es war, glaube ich, unter seiner Würde, mich zu töten, da ich mich nicht im Geringsten mehr ernsthaft gegen ihn hätte wehren können. So aber kam das Kleine Mädchen nicht mehr. Ich glaube, es trauerte ebenso um mich, wie ich um es trauerte. Doch es half nichts. Da nun mein Vetter die Herrschaft angetreten hatte, der nichts verstand von den Dingen, die ich kennen und erkennen gelernt hatte, und der von der Macht der Hände und des Blickes des Kleinen Mädchens unerreicht bleiben konnte, da er ihnen nie auch nur für den kleinsten Moment ausgeliefert gewesen war, konnte das Kleine Mädchen nicht mehr zu mir kommen, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. So wäre ich verhungert, hätte mein Vetter nicht seine Beute mit mir geteilt.
Dennoch schämte ich mich, von den von ihm erlegten Tieren zu fressen. Es schien mir ein ebenso großer Frevel, als würde ich selbst jagen. Dieser Gedanke quälte mich, doch ich musste von dem Fleisch fressen, wenn ich mich am Leben erhalten wollte, war es auch nur das Leben eines Wolfes. Ich hatte aber die Hoffnung, Mensch zu werden, noch nicht aufgegeben, und so kam es mir jedes Mal, wenn ich von meines Vetters Beute gefressen hatte, so vor, als hätte ich einen jämmerlichen Rückschlag erlitten und wäre von meinem Ziel weiter als je entfernt. Ohne das Kleine Mädchen war ich zu schwach, und es war fern und würde sicher nie mehr kommen, jedenfalls nicht so lange, wie mein Vetter hier jagte und herrschte.
Manchmal, wenn mich der Gedanke, nie an mein Ziel zu gelangen, besonders quälte, verkroch ich mich irgendwo im Unterholz, wo es sicher war, kauerte mich zusammen und wünschte mir, wie die Menschen zu weinen, so wie das Kleine Mädchen, wenn es traurig gewesen war. Aber ich konnte es nicht. Und dann klagte ich mich an deswegen und wegen meiner immer noch viel zu scharfen Zähne und Krallen, der vielen Morde, die ich begangen hatte und weil ich noch immer nicht genug Mensch war, um von den Beuteresten meines Vetters lassen zu können und dennoch weiter zu leben. Und ich dachte, ich müsste mich strafen. Doch wie?, fragte ich mich dann immer. Da konnte es sein, dass ich mir in die Pfote, mit der ich in dem Fangeisen festgeklemmt gewesen war, biss, wie ich es einmal tat nach langer Überlegung, dass ich die scharfen, die spitzen Zähne in mein eigenes Fleisch grub, bis das Blut dunkel mein Fell färbte und auf die Erde rann.
Ich ging sogar so weit, mit der verwundeten Pfote im Sand zu wühlen, damit sie sich entzünde. Der Schmerz dann war aber doch nur einer, der an den Schmerz jener Stunde erinnerte, als ich in dem Fangeisen festgesessen hatte; es war kein anderer, nein, fast derselbe, bestimmt nicht zu vergleichen mit dem, den die Menschen empfinden mussten, wenn sie sich selbst straften. Ich fürchtete, den Vorsatz, dem Kleinen Mädchen gleich zu werden, in der Gesellschaft meines allzu wölfischen Vetters eines Tages zu vergessen. Und so sorgte ich dafür, dass fortan die Wunde an meiner Pfote offen blieb, sich nie mehr schloss, nie mehr heilte, damit mich der Schmerz bei jedem Schritt an mein Ziel erinnere. Dennoch spürte ich, wie ich mit der Zeit immer anfälliger wurde gegen Rückfälle in mein barbarisches Wolfsein und dass es damit zusammenhing, dass ich das Kleine Mädchen nicht mehr sah, seine Hände, seine Worte und seinen Blick entbehren musste. Natürlich erinnerte ich mich an das strenge Verbot des Kleinen Mädchens, mich dem Dorf zu nähern. Und ich hätte es zu anderen Zeiten auch nie und nimmer übertreten. Jetzt aber, um meinem Vetter zu entfliehen und das Kleine Mädchen endlich wieder zu sehen, entschloss ich mich, zum Dorf zu schleichen und es zu suchen.
Vorsichtig näherte ich mich dem Gehöft, dessen Hof ich schon einmal betreten und wo ich damals das Kleine Mädchen gefunden hatte. Als ich dort anlangte, witterte ich wieder das Vieh, allerdings viel stärker, doch diesmal auch Menschen und – Blut. Ich hatte Angst, denn ich wusste noch gut, wie eindringlich mich das Kleine Mädchen davor gewarnt hatte, noch einmal dorthin zu kommen. Mein Wunsch aber, es wieder zu sehen, unter seinen Blick und in seine schwachen und doch so starken Arme, auf denen es mich getragen hatte, zurückzukehren, war stärker als alle Furcht. Also zwang ich mich, näher heranzuschleichen und lugte durch einen Spalt zwischen den Brettern, aus denen der hohe Zaun um das Gehöft zusammengezimmert war. Ich sah eine Hand, zur Faust geschlossen, die ein großes Messer hielt, und ich sah ein Schwein, das an einem Holzgestell an den Hinterbeinen aufgehängt worden war und dem das Messer mit einem schnellen Stoß in die Halsschlagader fuhr und sie mit einem Schnitt der Länge nach öffnete, so dass das Blut in einem starken, rubinroten Strahl daraus hervorschoss. Es floss in einen Holztrog, in dem ein großer Holzlöffel monoton rührte. Und dieser Holzlöffel wurde von einer kleinen, zarten Hand mit schmalen, kunstvollen Fingern gehalten. Mit unbewegtem Gesicht saß das Kleine Mädchen neben dem Holztrog, in den das Blut des aufgehängten Schweines floss, und es rührte und rührte. Im Ausfließen spritzte ihm das Blut aufs Hemd und ins Gesicht. Und auch seine Hände waren gefärbt von dem Blut, das nicht von ihm stammte, sondern von dem Schwein, dem das große Messer die Halsschlagader geöffnet hatte, so dass es nach und nach mit jenem rubinroten Strahl ausblutete.
Das Gesicht des Kleinen Mädchens war wie aus Wachs, völlig leblos, in dem das Blut, das daran gespritzt war, wie Zeichen einer furchtbaren Krankheit aussah, an der es gestorben sein musste. Immerfort rührte es mit dem hölzernen Löffel in dem hölzernen Trog mit dem Blut. Und es musste gestorben sein, wenn es sich auch noch bewegte, jene monotone Bewegung des Rührens ausführte wie unter dem Befehl einer Macht, die, stärker noch als die des Kleinen Mädchens, es gebrochen haben musste. Mit einem Mal begann ich zu verstehen, und es nahm mir den letzten Mut, den ich mir in den Wäldern, fern des Kleinen Mädchens und der Herrschaft meines Vetters, der ich unterworfen war, zum Trotz, noch bewahrt hatte. Plötzlich begriff ich, warum es mir möglich gewesen war, die Sprache der Menschen zu verstehen. Ich musste es können, denn sie sprachen meine Sprache, die Sprache eines Wolfes, die Sprache aller Wölfe. Allein sie setzten die Worte kunstvoller und um vieles geschickter, als ich es je vermocht hätte, wäre ich ihnen auch noch so ähnlich geworden. Während ich nun zusah, wie das Kleine Mädchen noch immer in dem Blutbottich rührte, wurde mir klar, dass es die Bäume, von denen ich vermutet hatte, sie würden hier wachsen, nicht gab, dass es sie nie gegeben hatte. Und ich erkannte den Wahnsinn meines Wunsches, dem Kleinen Mädchen gleichen zu wollen, das gestorben war, ja vielleicht nie gelebt hatte.
Ich ging fort von dem Dorf, fort aus jenem großen Waldgebiet jenseits des Flusses, über das ich so viele Jahre geherrscht hatte. Mit großer Mühe überquerte ich den Fluss; und als ich am anderen Ufer anlangte, schien es Abend zu sein, überall und vielleicht auf immer.
Ich habe vergessen, was ich suche. Vielleicht eine verlorene Antwort. Auch, wie lange ich schon unterwegs bin, vermag ich nicht zu sagen. Es scheint mir jedoch wirklich schon sehr lange her zu sein seit jenem Tag, da ich mich auf den Weg machte. Jetzt fühle ich den Tod lauern hinter jedem Baum, jedem Strauch, den Tod im Angriff irgendeines Tieres, das sich nie an mich herangewagt hätte, als ich noch stark war, nicht verwundet, von dem Wunsch geschwächt, wie die Menschen werden zu wollen.
Warum, Kleines Mädchen, war Blut an deinen Händen, das nicht von dir stammte, nicht von einer eigenen Wunde? Warum warst du nicht wirklich so, wie ich dich geliebt hatte? Und warum hast du mich verlassen?
So frage ich, ohne Antwort zu haben. Mein Fell war nie etwas anderes als einfach das Fell eines Wolfes. Jetzt aber ist es nicht mehr schön, nicht mehr glatt und dicht; und ich friere. Ich habe vergessen, wohin ich unterwegs bin und was ich suche. Doch die Wälder sind weit; und wenn ich von Angriffen verschont bleibe, werde ich noch lange so gehen können.
Berlin, Mai – Juli 1989
Am 21. Februar 2007 um 09:56 Uhr
Gefällt mir sehr gut. Wann folgt die Fortsetzung? ;) Und wann hast Du das geschrieben?
Am 21. Februar 2007 um 09:59 Uhr
Hab´s gerade gelesen, dass morgen der nächste Teil gepostet wird. :)
Am 21. Februar 2007 um 10:16 Uhr
Wenn ich meinen Notizen glauben darf: Mai-Juli 1989, ist schon eine Weile her…
Am 21. Februar 2007 um 17:56 Uhr
Wie gut, dass Du jetzt einen Blog hast und man die Gelegenheit bekommt auch Deine Worte zu lesen.
Am 17. August 2009 um 14:15 Uhr
[…] Den ganzen Beitrag lesen » […]
Am 17. August 2009 um 14:16 Uhr
[…] Den ganzen Beitrag lesen » […]